Ketzer
von Cobbetts Pförtnerhäuschen.
»Cobbett!«, zischte ich so laut, wie ich es wagte. »Ich bin es, Bruno, öffnet das Tor!«
Schweigen schlug mir entgegen. Ich zog mich am Fensterbrett hoch und sah den alten Pförtner in seinem Stuhl schlummern. Das Kinn war ihm auf die Brust gesunken, sein Mund stand offen, und ein Speichelfaden hing an seiner Unterlippe.
»Cobbett!«, rief ich erneut, aber er rührte sich nicht. Mit einer Verwünschung trat ich zurück und blickte an den Gebäudemauern hoch. Alle Fenster waren dunkel, und ich überlegte, ob ich es riskieren durfte, jemand anderen zu wecken, indem ich meine Stimme noch mehr erhob. Ich wollte nicht auf der Straße vor der Universität bleiben, hier würde mich Jenkes zuerst suchen. Doch als ein dünner Strahl fahlen Mondlichts durch die Wolken drang, fiel mir noch eine andere Möglichkeit ein. Das letzte Fenster der westlichen Gebäudekette musste zu Norris’ Kammer gehören. Obwohl es geschlossen schien, gelang es mir, einen Finger meiner gesunden Hand zwischen Wand und Rahmen zu schieben, und ich stellte fest, dass es glücklicherweise nicht verriegelt war. Als ich mich mühsam durch den schmalen Spalt zwängte und zusammenzuckte, als ich mit meiner verbrannten Hand gegen die Wand stieß, betete ich, dass keiner der beiden Bewohner des Raums am Abend zurückgekommen war.
Ich kletterte durch das Fenster und landete unsicher auf der darunter stehenden großen Holztruhe. Einen kurzen Augenblick blieb ich stocksteif stehen und lauschte auf Atemzüge oder andere Geräusche in der angrenzenden Schlafkammer, aber alles blieb still. Ein schwaches Licht fiel durch das zum Hof gelegene Fenster und ermöglichte es mir, die Umrisse der Möbelstücke zu erkennen. Der Boden schien mit den verschiedensten Gegenständen übersät zu sein. Nachdem ich vorsichtig darüber hinweggestiegen war und die Oberflächen der Kommode und
der Tische abgetastet hatte, fand ich eine Zunderbüchse, die auf dem geschnitzten Tisch unter dem Fenster liegen gelassen worden war. Damit zündete ich einen Kerzenstummel auf dem Schreibtisch an, sah mich um und stellte fest, dass in der Kammer ein ebensolches Chaos herrschte wie in der von Roger Mercer am Morgen seines Todes. Kleider waren aus dem Schrank gerissen, Bücher und Papiere auf dem Boden verstreut und sämtliche Schubladen von Norris’ schönem Schreibtisch herausgezogen und geleert worden. Ich ließ mich auf die Bank vor dem kalten Kamin sinken und zwang mich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, während ich zum ersten Mal seit einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, meine wirren Gedanken ordnete. Meine Schultern schmerzten, und die Wunde an meinem Hals brannte, obwohl sie nicht tief war, aber nun, da ich mich nicht mehr in unmittelbarer Gefahr befand, konnte ich wieder klar denken. Nicht, dass die Gefahr endgültig gebannt war; Jenkes hatte ja schon beschlossen, dass ich zu viel wusste, und sowie er von meiner Flucht erfuhr, würde er alles daransetzen, mich aufzuspüren, bevor ich mich jemandem anvertrauen konnte. Deshalb musste ich Sidney unverzüglich alles mitteilen, was ich wusste. Nach dem Gespräch mit Humphrey hatte eine Theorie über die Morde in meinem Kopf Gestalt anzunehmen begonnen – verschwommen noch, wie hinter einem Nebelschleier verborgen. Wenn meine Vermutungen zutrafen, dann meinte ich zu wissen, wo ich die Antworten auf meine Fragen finden würde. Und wenn ich Jenkes Glauben schenken durfte, musste ich dorthin gelangen, bevor Thomas Allen zum Schweigen gebracht wurde.
Aber erst musste ich Sidney benachrichtigen, damit er wenigstens wusste, wohin ich gegangen war und welcher Verdacht mich dorthin geführt hatte, vielleicht könnte er mir dann folgen, wenn ich nicht zurückkehrte – obwohl ich sehr wohl wusste, dass es dann zu spät sein konnte.
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, begann ich in dem Papierwust auf Norris’ Schreibtisch nach einer Schreibfeder zu suchen, um meine Schlussfolgerungen kurz für Sidney zusammenzufassen,
ehe ich mich auf den Weg machte, aber ich konnte keine Tinte finden. In der obersten offenen Schublade entdeckte ich eine Stange zinnoberrotes Siegelwachs und ein paar Papierbögen. Die Kerze, die ich angezündet hatte, war fast heruntergebrannt. Als ich mich im Raum nach einer anderen umsah, fiel mein Blick auf die Truhe unter dem Fenster. Das Vorhängeschloss war aufgebrochen worden. Ich packte die bald erlöschende Kerze und klappte den schweren Deckel hoch, aber die Truhe
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