KGI: Dunkle Stunde (German Edition)
Ahnung.
Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken und bedeckte das Gesicht mit den Händen, während immer mehr Erinnerungen an damals über sie hereinbrachen wie eine Sturzflut. Ethan hatte gebrüllt, er habe von diesem Leben genug. Er hatte nicht gewollt, dass sie zu diesem Katastropheneinsatz nach Südamerika flog. Es gebe hier genug Elend, hatte er gemeint, deshalb verstehe er nicht, wieso sie in irgendein gottverlassenes Kaff abhauen wolle, um die Weltverbesserin zu spielen.
Aber da steckte mehr dahinter. Dass er so unglücklich war, konnte nicht über Nacht gekommen sein. Ihr fiel ein, wie elend sie sich selbst gefühlt hatte. Egal, was sie tat, nichts hatte sie ihm recht machen können. Für ihre Ehe hatte es keine Hoffnung mehr gegeben. Und dennoch war sie am Boden zerstört gewesen, als er ihr diese Papiere in die Hand gedrückt hatte.
Er liebte sie nicht mehr. Er hasste sie. Und dann war sie »gestorben«. War er froh gewesen? Was sollte diese Farce jetzt? Hatte er Schuldgefühle?
Seine Familie wusste von all dem nichts. Urplötzlich war diese Erkenntnis da. Sie erinnerte sich, wie ausweglos sie ihre Lage empfunden hatte. An seine Familie konnte sie sich nicht wenden. Lieber wäre sie gestorben, als dass sie den anderen das ganze Ausmaß ihrer Eheprobleme enthüllt hätte. Und Gleiches galt mit Sicherheit für Ethan. Deshalb konnten sie auch unmöglich wissen, wie schrecklich ihre Situation gewesen war.
Großer Gott, spielte er ihr deshalb vor, sie wäre die Liebe seines Lebens? Warum? Warum nur?
Es gab zu viel, das sie nicht wusste, aber in Erfahrung bringen musste. Sie musste hier raus, bevor sie anfangen würde zu schreien, dass die Wände wackelten.
Garrett. Er war immer für sie da gewesen. Immer. Hatten sie beide Ethan tatsächlich hintergangen? Nein. Das war unmöglich. Sie hatte Ethan geliebt und war trotz allem völlig niedergeschlagen gewesen, als er sie um die Scheidung gebeten hatte – nein, sie von ihr gefordert hatte.
Aber Garrett musste mehr wissen. Er kannte bestimmt einige der Antworten, die sie suchte. Die Zeit, zu schweigen und alles in sich hineinzufressen, war vorbei. Sie hatte sonst niemanden. Nur Ethan. Und jetzt nicht einmal mehr ihn.
Schluchzend stand sie auf. Garrett hatte seine Autoschlüssel auf dem Küchentisch liegen lassen. Sam hatte ihn abgeholt, damit sie und Ethan einen fahrbaren Untersatz hatten, bis sie einen Ersatz für den Pick-up anschaffen konnten.
Draußen war es noch stockfinster, als sie zu Garretts Wagen lief. Sie hatte gar nicht auf die Uhr geguckt, und jetzt, da sie auf dieselbe Brücke zufuhr, von der sie fast hinuntergestürzt wäre, geriet sie in Panik.
Ihre Handflächen waren ganz glitschig vor Schweiß. Sie atmete so flach, dass ihr schon schwindlig war. Als sie sich besagter Stelle näherte, bremste sie unwillkürlich und hätte beinahe ganz angehalten. Immerhin hatte sie ihr Handy dabei, und Garretts Nummer war einprogrammiert. Er könnte sie hier abholen.
Angewidert von ihrer eigenen Schwäche trat sie aufs Gaspedal und raste über die Brücke, blieb aber stur auf der linken Spur und würdigte die ganzen Absperrungen und Polizeibänder rund um das klaffende Loch im Geländer keines Blicks.
»Jetzt kannst nur du selbst dir noch helfen«, sagte sie sich immer wieder. Wenn sie es sich oft genug vorbeten würde, dann würde sie es am Ende noch selbst glauben.
Zehn Minuten später bog sie in die gekieste Auffahrt zu dem Haus am See ein und parkte den Wagen neben Sams Pick-up. Da Donovan sehr spät – oder sehr früh – aufgebrochen war, hatten die beiden wahrscheinlich noch nicht viel Schlaf bekommen. Und jetzt platzte sie herein.
Vielleicht schätzte sie ihr Verhältnis zu Garrett ja falsch ein. Aber sosehr sie ihr Gehirn auch zermarterte, mehr als die Gefühle einer engen Freundschaft war da nicht.
Vor der Haustür zögerte sie ein paar Sekunden. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, wischte sich die feuchten Hände an der Jogginghose ab und schalt sich insgeheim für ihre Feigheit.
Mit zitternden Fingern klopfte sie und verdrehte gleichzeitig die Augen. Wer sollte das denn hören? Also drückte sie ein paarmal auf die Klingel und wartete mit zitternden Knien.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und sie sah sich Sam gegenüber. Instinktiv wich sie zurück. Er war lediglich mit Shorts bekleidet und schaute so finster drein, dass einem angst und bange werden konnte. Das änderte sich jedoch schlagartig, als er Rachel erkannte.
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