KGI: Dunkle Stunde (German Edition)
gelesen.
Plötzlich wurde ihr ganz flau im Magen. Stocksteif marschierte sie die Treppe hinunter, jeder Schritt kostete sie Überwindung. Alle waren im Wohnzimmer versammelt. Na toll.
Sie stapfte die Stufen herunter, ohne jemandem ins Gesicht zu schauen. Trotzdem konnte sie die durchdringenden Blicke spüren, den Hass, den die Brüder ausstrahlten. Schlimmer noch, sie spürte auch Marlenes tiefe Enttäuschung.
Sie linste kurz zu Frank hinüber. Er wirkte nicht wütend, sondern nur traurig, und ihr wurde das Herz schwer.
Rusty ging achtlos an den Stühlen in der Nähe der anderen vorbei und hockte sich auf den Kaminvorsprung. Sie konnte hören, dass die Brüder schon Luft holten für ihre Tirade, wie missraten sie doch sei.
»Hört mal«, platzte sie heraus. »Das war keine Absicht. Ich weiß, dass ihr mich jetzt alle hasst. Ich verstehe das. Ich habe Scheiße gebaut.«
»Pass auf, was du sagst, junge Dame«, bemerkte Marlene auf ihre schnippisch mütterliche Art, die Rusty so mochte. Vielleicht deshalb, weil ihre Mutter nie so mit ihr gesprochen hatte – wie eine richtige Mutter eben.
»Ich will nur wissen, wieso du das getan hast«, sagte Ethan.
Rusty blickte hoch und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Ethan stand zwischen Sam und Garrett, und alle drei wirkten so Furcht einflößend, dass ihr ganz schummrig wurde. Sie waren sauer. Und das völlig zu Recht. Der Kloß in ihrem Hals wuchs und wuchs. Wütend versuchte sie, ihn hinunterzuschlucken. Die würden sie nicht zum Weinen bringen. Das hatte noch niemand geschafft, weder ihre durchgeknallte Mutter noch deren bescheuerter Mann, der sich selbst zu Rustys Stiefvater ernannt hatte. Die konnten alle geradewegs zur Hölle fahren.
Überraschenderweise kam ihr Nathan zu Hilfe.
»Schluss mit den Verhörmethoden«, sagte er zu seinen Brüdern. »Sie soll erst mal erzählen, was passiert ist. Ihr habt euren Urteilsspruch ja bereits gefällt.« Dann wandte er sich an Rusty. »Also los, lass hören.«
Etwas in seiner Miene weckte in ihr den Wunsch, alles zu erklären. Kurz zuvor war sie noch entschlossen gewesen, ihnen zu sagen, sie sollten sich alle zum Teufel scheren. Dann wäre sie zu ihrem alten Leben auf der Straße zurückgekehrt. Jetzt plötzlich war sie wild entschlossen, um ihren Platz in dieser Familie zu kämpfen. Sie hätte schwören können, dass sie in Nathans Augen etwas sah, das ihr zuvor noch nie entgegengebracht worden war … Vertrauen.
Sie richtete den Blick auf Marlene und Frank. Marlene sah unendlich traurig aus. Offenbar hatte sie sogar geweint. Frank … er wirkte einfach nur enttäuscht. Rusty hätte sich lieber einen Eispickel ins Auge gerammt, als ihm solchen Kummer zu bereiten.
Schließlich sah sie wieder zu Ethan, Sam und Garrett, und endlich wurde ihr klar, warum sie die Brüder so sehr hasste. Sie waren über jedes vernünftige Maß hinaus sauer auf sie, weil sie etwas getan hatte, das Rachel verletzte. Rachel, Rachel, Rachel. Rusty hasste Rachel nicht, aber sie beneidete sie dermaßen, dass dieser Neid wie Gift in ihrem Körper wirkte. Sie wollte auch jemanden haben, der ihr ähnlich starke Gefühle entgegenbrachte. Sie wollte Brüder haben – eine Familie – , die sie liebten und sie vor allem Übel dieser Welt beschützten. So, wie sie es für Rachel taten. Rachel, die durch die Hölle gegangen war und Rustys ätzende Feindseligkeit nicht verdient hatte.
»Ich wollte … zu euch gehören«, stammelte sie stockend.
Eine Träne rollte ihre Wange hinunter. Schnell wischte sie sie mit dem Handrücken weg, entsetzt von der Vorstellung, jemand könnte sie wie ein Baby weinen sehen.
Sam blinzelte ein paarmal und ließ die Arme sinken, die er vor der Brust verschränkt hatte.
»Könntest du uns das erklären? Wie willst du denn zu uns gehören, wenn du Rachel ans Messer lieferst und dich in aller Öffentlichkeit über KGI auslässt?«
»Ich habe nicht gewusst, dass er ein Journalist ist«, verteidigte sie sich. Sie war nur noch ein Häufchen Elend. »Er war auf der Party, deshalb habe ich angenommen, dass ihr ihn kennt und ihm traut. Er war nett und lustig und scheinbar echt interessiert an dem, was ich zu sagen hatte. Er wollte ein Familienmitglied sprechen, und es war so ein schönes Gefühl, wenigstens eine Minute lang so zu tun, als wäre ich eins.«
»Ach, mein kleiner Liebling«, sagte Marlene leise.
»Aber weshalb hast du all diese Dinge über Rachel erzählt?«, fragte Ethan weiter. »Hast du denn keine
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