KGI: Dunkle Stunde (German Edition)
dem Fahrersitz eine Gestalt erkennen konnte. Er zog die Stirn in Falten. Der Wagen ähnelte Ethans Pick-up, aber der Fahrer hatte nicht Ethans Größe. Das war eher eine Frau. Oder ein sehr kleiner Mann.
Als er näher kam, gab er das Kennzeichen über Funk durch und parkte hinter dem Pick-up. Auf die Antwort aus der Zentrale brauchte er allerdings nicht erst zu warten. Es war definitiv Ethans Wagen.
Vorsichtig auf den Verkehr achtend stieg er aus und näherte sich dem Fahrzeug. Im Seitenspiegel entdeckte er eine Frau, die über das Lenkrad gebeugt dasaß. Rachel.
Er nahm die Hand vom Holster und lief los. Die Schultern der Frau bebten. Seine Gegenwart nahm sie überhaupt nicht wahr.
Da er sie nicht erschrecken wollte, tippte er leise an die Scheibe. Wie vom Blitz getroffen fuhr sie hoch. Tränenüberströmt starrte sie ihn an. Ihre Pupillen waren geweitet – aus Angst? Es tat ihm leid, dass er sie ungewollt in Panik versetzt hatte.
»Mach die Tür auf, Rachel«, rief er so laut, dass sie ihn durch das Fenster verstehen konnte.
Einen Moment lang glaubte er schon, sie würde sich weigern, dann sah sie ihn resigniert an und öffnete zögernd die Tür einen Spalt weit.
Er zog sie weiter auf und beugte sich zu ihr herunter. »Was hast du, Rachel? Fehlt dir was? Hattest du einen Unfall?«
Einen Schaden am Wagen konnte er nicht entdecken, er hatte den Pick-up aber auch nicht von allen Seiten überprüft. Ein leiser Schluchzer entrang sich Rachels Kehle, dann liefen ihr erneut Tränen über die Wangen.
»Eigentlich solltest du mich verhaften, Sean.«
Damit hatte er nun gar nicht gerechnet. Wie vor den Kopf geschlagen richtete er sich auf.
Mit Sorge beobachtete er den vorbeirauschenden Verkehr. Dies war nicht gerade ein geeigneter Ort, um herauszufinden, warum Rachel glaubte, er müsste sie verhaften. Außerdem würde das ganz offensichtlich auch nicht auf die Schnelle zu klären sein.
Er fasste sie leicht am Ellbogen. »Komm, setzen wir uns in meinen Wagen. Ich würde mich wohler fühlen, wenn wir uns etwas weiter abseits der Fahrbahn unterhalten würden. Dann kannst du mir in Ruhe erzählen, was dich so mitgenommen hat.«
Sie wirkte so verloren, dass ihm ganz unbehaglich zumute wurde. Er hatte in seinem Beruf ständig mit Frauen zu tun, unter allen möglichen unangenehmen Umständen. Er nahm sie fest, überbrachte ihnen schlechte Nachrichten, nahm Berichte in Missbrauchsfällen auf. Aber keine von ihnen kannte er privat.
Rachel starrte weiter geradeaus und biss sich auf die Unterlippe, als könnte sie sich nicht entscheiden, was sie tun sollte.
»Nun komm schon, Süße«, wiederholte er mit etwas mehr Nachdruck. »Reden wir über die Sache, und anschließend bringe ich dich nach Hause.«
Sie schaute ihn an und begann wieder zu weinen. »Ich kann nicht nach Hause, Sean.«
Mist. Was sollte er darauf sagen? Und wo zum Teufel war Ethan?
Er griff unter ihrem Arm hindurch und hoffte, sie würde sich nicht widersetzen. Dann öffnete er ihren Sicherheitsgurt und zog sie vorsichtig aus dem Wagen. Als sie die Füße auf den Boden setzte, wäre sie beinahe hingefallen. Er legte ihr einen Arm um die Taille, um sie zu stützen, und führte sie zu seinem Streifenwagen.
»Nein, nicht auf die Rückbank«, sagte er schnell, als sie schon hinten einsteigen wollte.
Er öffnete die Beifahrertür und schob sie auf den Sitz. Dann lief er auf die andere Seite und setzte sich neben sie.
Einen Moment lang tippte er mit den Daumen aufs Lenkrad, dann fiel er mit der Tür ins Haus. »Wieso in aller Welt soll ich dich ins Gefängnis stecken?«
Zitternd legte sie sich eine Hand auf die Stirn und schloss die Augen. Die Qualen, die sie durchlitt, standen ihr ins Gesicht geschrieben.
»Großer Gott, Sean. Weißt du, was ich beinahe getan hätte? Ich habe die Praxis der Therapeutin verlassen … « Sie brach ab und stieß ein bitteres Lachen aus. »Genauer gesagt: Ich bin hinausgerannt. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich wusste nur noch, dass mein Leben total im Eimer ist, und eine Spritze erschien mir wichtiger als weiterzuleben. Ich schaute mich um und entdeckte auf dem Parkplatz eines Lebensmittelladens einen Jungen auf seinem Skateboard. Ein Kind, Sean. Und ich fragte mich, ob er wohl wüsste, wie man in der Gegend an Drogen kommen könnte. Bevor mir noch klar war, was ich tat, stieg ich auch schon aus.«
Sie sank in sich zusammen. Die Verzweiflung, die aus ihr sprach, rührte ihn so, dass er am liebsten
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