Kill Order
Augen, ihren verstörten Gesichtsausdruck und die Überraschung im Moment der Erkenntnis. Mit einem Mal wurde ihm klar, was ihn die ganze Zeit beschäftigt hatte. War das Erleichterung auf ihrem Gesicht gewesen, oder Erschrecken? Sooft er sich die Erinnerung zurückholte und diesen Augenblick einzufrieren versuchte, er konnte es nicht sagen. Vielleicht hatte sie geglaubt, dass er mit diesen Typen, die sie hatten erschießen wollen, gemeinsame Sache machte.
*
Um dreizehn Uhr fünfundfünfzig betrat ein ältlicher Mann den Raum im Innsbrucker Ferdinandeum, der die kleine Sammlung holländischer Marinemalerei und daneben noch einige Blumenstillleben beherbergte. Er nickte der Dame vom Aufsichtspersonal zu und blieb vor einem Gemälde von Hendrick Cornelisz stehen. Dabei positionierte er sich so, dass er auch die beiden rechts und links angrenzenden Räume im Blick hatte.
„Die Kavallerie“, murmelte er, „ist schon da.“ Für einen aufmerksamen Beobachter würde es so aussehen, als ob der schrullige alte Mann mit sich selbst redete. „Zwei Männer rechts im großen Saal, und einer links, im Raum mit den Musikinstrumenten.“
In seiner Ohrmuschel rauschte es leise, als Carmen zu einer Antwort ansetzte. „Was soll ich machen?“ Ihre Stimme klang verzerrt durch das winzige Mikrofon.
„Wie geplant.“ Nikolaj wandte sich vom Gemälde ab und trat zum nächsten Bild. Seine Verkleidung war so perfekt, wie es bei der kurzen Vorbereitungszeit nur möglich war. Im Hotelzimmer hatte er stundenlang den Gang geübt. Langsame schleppende Schritte, bei denen er die Knie nie ganz streckte, den Oberkörper leicht gebeugt, die Arme pendelnd. Er sah aus wie ein ältlicher Professor aus einer verschlafenen österreichischen Uni, hatte Carmen lachend gesagt. Sie fand, dass der Verwandlung etwas Unheimliches anhaftete. „Ich gehe in den großen Saal“, murmelte er, „und komme in ein paar Minuten zurück.“
Bei jedem Schritt zog er das linke Bein nach. Im Nachbarsaal, nicht weit vom Durchgang entfernt, standen Polsterbänke. Er ließ sich umständlich darauf nieder und blätterte im Katalog. Im Augenwinkel entdeckte er einen von Francescos Leibwächtern. Er kannte den Mann sogar von früher, auch wenn er den Namen nicht wusste. Es war ein stämmiger Typ mit narbiger Haut, der gelangweilt im Raum stand und zwischen den regulären Besuchern wie ein Fremdkörper wirkte.
Dann tauchte Carmen auf. Sie trug Jeans und flache Turnschuhe und war so geschminkt, dass ihre Haut um einige Grade dunkler wirkte. Ihr Haar hatte sie unter einem Seidenkopftuch verborgen. Nikolaj las in seinem Katalog, während sie an ihm vorbeiging. Wenige Minuten später erschien Francesco auf der Bildfläche.
Er hatte sich kaum verändert. Ein schlanker, fast schon schmächtiger Mann in den Fünfzigern, gekleidet wie ein Anwalt. Bedächtig schlug Nikolaj den Katalog zu und erhob sich aus den Lederpolstern. Er betrachtete die Bilder in der Nähe des Durchgangs, bis sich eine Gruppe von Besuchern näherte, denen er sich anschloss.
In seinem Ohrhörer knackte es. Er hörte Carmens Stimme, aber sie sprach nicht mit ihm, sondern mit jemand anderem. Eine Begrüßung, ein paar höfliche Worte. Sie tasteten einander ab. Francesco war misstrauisch. Er fragte, für wen sie arbeite. Carmen antwortete ausweichend. Eine junge Organisation. Talaa’ al-Fateh. Sie waren noch unbekannt, aber das würde sich bald ändern.
Die Besuchergruppe schlenderte weiter in den angrenzenden Raum. Nikolaj folgte ihnen. Er sah Carmen, die mit Francesco in der rückseitigen Hälfte des Raumes stand, die von den benachbarten Sälen nicht einsehbar war. Direkt hinter ihnen befand sich eine Tapetentür, erkennbar nur an einer dünnen schwarzen Linie, die die weiß gestrichene Wand unterbrach. Nikolaj blieb erneut vor dem Cornelisz-Gemälde stehen und las die Beschreibung auf der kleinen Infotafel. Francesco fragte, was genau Carmen mit Ausrüstung meinte. Gewehre, sagte sie, Munition. Können Sie M-16 liefern? Ja, gab er zurück. Raketen. Semtex-Sprengstoff?
Übertreib es nicht, dachte Nikolaj. Mit schwerfälligen Schritten schlurfte er zum nächsten Bild. Er wartete, bis die anderen Leute den Raum verlassen hatten. Die Aufseherin war vor zwei Minuten im Nachbarsaal mit den Musikinstrumenten verschwunden. Wie Nikolaj wusste, würde sie ihre Runde laufen und frühestens in acht Minuten wieder hier auftauchen.
Das nächste Bild. Er stand jetzt bereits so weit im Raum, dass man
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