Kill Order
mit ihr anstellen würde. Sicher versuchte er Informationen aus ihr herauszuholen und war in der Wahl der Mittel nicht zimperlich. Wenn es um das eigene Überleben ging, spielte Ritterlichkeit keine Rolle, er machte sich da nichts vor. Er musste nur in sich selbst hineinhorchen, um diese These bestätigt zu finden. In einer Ecke seines Verstandes hoffte er dennoch, dass Nikolaj sich um der alten Zeiten willen zurückgehalten und nicht mehr Brutalität als nötig eingesetzt hatte.
Er schluckte heftig und presste die Finger gegen seine Schläfen. Dann stellte er sich vor, wie es sein würde, den Abzug zu betätigen, den Rückstoß der Waffe, das Projektil, das sich aus kurzer Entfernung in Nikolajs Brust grub und den Ausdruck der Überraschung auf dem Gesicht des Russen, wenn er ihm in die Augen sah, kurz vor dem Ende.
33
C
armen erwachte mit Kopfschmerzen. Draußen färbte sich der Himmel rötlich. Nikolaj schlief noch. Vorsichtig schob sie die Decke beiseite und stand auf. Nackt schlich sie ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Sie trank das kalte Wasser aus den Handflächen und wusch sich ihr Gesicht.
Sie blickte auf und starrte in den Spiegel, schaute sich selbst in die Augen. Ihre Kehle war eng, ihr Magen fühlte sich eisig an. Das war ein Fehler gewesen, dachte sie mit nüchterner Klarheit. Sie hätte das nicht tun dürfen. Vor nicht einmal zwanzig Stunden war es nur Beklommenheit gewesen, vage Befürchtungen, weil sie mit ihrem Anruf den Pakt verletzte, den Nikolaj und sie miteinander geschlossen hatten.
Jetzt brannten die Schuldgefühle wie Säure. Aus körperlicher und emotionaler Nähe war wie von selbst eine moralische Verpflichtung erwachsen, die sie innerlich zu zerreißen drohte. Während sie ihr Spiegelbild betrachtete, wurde ihr klar, dass ihr Verhältnis zu Nikolaj eine neue Ebene erreicht hatte.
Dass er ihr etwas bedeutete. Dass sie den Panzer hatte fallen lassen, der ihr Inneres gegen die täglichen Dolchstöße des Lebens abschirmte. Sie hatte sich verletzlich gemacht, und das war die eigentliche Katastrophe, denn es würde zukünftig ihre Entscheidungen beeinflussen.
Ihre Kehle war geschwollen, sie wollte weinen, um sich selbst, um das was geschehen war, um die verlorenen Möglichkeiten. Doch ihre Augen brannten nur und blieben trocken. Sie ließ sich erschöpft auf den Badewannenrand sinken und legte die Arme um ihre Knie. Lange blieb sie so sitzen, während draußen der Morgen heraufzog.
Stockholm-Syndrom. Ein Phänomen, das manchmal zwischen Geisel und Geiselnehmer auftritt. Sie hatte beim Dienst ein paar Mal davon gehört, erinnerte sich sogar, in einem Buch darüber gelesen zu haben. Die Geisel verliebt sich in den Geiselnehmer. Das kann man behandeln, dachte sie, dafür gibt es Spezialisten. Sie verfolgte den Gedanken noch ein Stück weiter, registrierte aber gleichzeitig, dass er ihr einen üblen Geschmack im Mund verursachte. Das Stockholm-Syndrom implizierte, dass die Geisel ihren eigenen Willen aufgegeben hatte und instrumentalisiert worden war.
Sie schüttelte den Kopf. So war es nicht. Sie hatte ihn gewollt. Sie biss sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckte. Endlich richtete sie sich auf und warf durch die offene Badezimmertür einen Blick zum Bett. Nikolaj lag auf der Seite, die Decke halb unter sich zusammengeschoben, seine Züge entspannt im Schlaf. Ein dunkler Bartschatten bedeckte seine Wangen, das Haar fiel ihm weich in die Stirn. Eine Woge von Zärtlichkeit wallte in ihr auf. Ein Akt freien Willens, dachte sie mit aufsteigender Wut. Es war ihr freier Wille gewesen. Sie war eine erwachsene Frau. Sie konnte selbst entscheiden, was sie mit ihrem Leben anstellte. Dennoch wagte sie das Wort Liebe nicht einmal zu denken. Wie sollte das funktionieren? Stumm presste sie sich die Fäuste auf die Lider und erstickte den Drang zu schluchzen.
*
Eine Bewegung weckte ihn, eine Störung im Licht. Er drehte sich halb herum, so dass er sie ansehen konnte. Auf einen Ellbogen gestützt betrachtete er ihr Gesicht. Er dachte, dass er Tage und Stunden hätte damit verbringen können, sie einfach nur anzusehen. Carmen erwiderte seinen Blick mit unergründlicher Miene.
„Was denkst du?“, fragte er.
„Nichts.“
Er senkte den Kopf, um sie zu küssen. Mit einer kleinen Bewegung wich sie aus. Überrascht hielt er inne. „Was ist?“
„Tut mir leid.“ Sie schüttelte den Kopf.
Er spürte, wie sich etwas in seinem Innern verkrampfte.
Flüchtig hob sie ihre Hand und
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