Kill Order
hatte ihn auch anders erlebt, in Beirut und in den Tagen danach im Libanongebirge und da war er ein anderer Mann gewesen. Einer, der ohne zu zögern töten konnte und dem jedes Mittel recht war, um seinen Willen durchzusetzen. Sie dachte an die erste Nacht in den Kalksteinhöhlen, an die Todesangst und an die Schmerzen. Unwillkürlich tastete sie nach dem Schnitt an ihrem Kinn, der inzwischen fast verheilt war.
Sie stoppten an einer Ampel. Quietschend bog eine Straßenbahn um die Kurve. Vor ihnen ragten die Hochhäuser der Sozialismus-Ära auf, Fassaden aus hellblau und gelb glasierten Kacheln, die das Bild rund um den Alexanderplatz immer noch prägten. Er steuerte den Wagen in eine Seitenstraße und suchte nach einem Parkplatz. Sie fuhren an einem Spielplatz vorbei und fanden eine Lücke direkt neben einem U-Bahn-Eingang. Nikolaj stellte den Motor aus. „Wir sind da.“
Ihr Blick huschte über das Mobiltelefon, das auf der Mittelkonsole lag.
*
„Irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte Rafiq, nachdem Katzenbaum das Handy vom Ohr genommen hatte. Der Katsa schüttelte den Kopf.
Rafiq starrte wieder an die Wand, auf der nun weiße Flecken zwischen den Fotos gähnten. Geblieben waren fünfzehn Adressen. „Wir suchen nach einer Nadel im Heuhaufen.“
„Grolanik tut, was er kann“, sagte Katzenbaum. „Er hat alle seine Leute darauf angesetzt, aber mehr als auf einen Zufallstreffer hoffen, können die auch nicht.“
„Also sitzen wir hier rum und warten auf ein Wunder.“ Tal klang bitter. „Und versuchen uns in Kunstdeutung.“
Rafiq wandte sich zur Tür. „Ich brauche frische Luft.“
Er ließ sie hinter sich ins Schloss fallen und lief den Korridor hinunter, bis zu der Glastür, die in den kleinen Innenhof führte. Kopfschmerzen quälten ihn seit dem Morgen und wollten nicht verschwinden. Er überquerte den Rasen und betrat durch eine zweite Glastür das Quergebäude, in dem die Büros der Botschaft untergebracht waren. In einem Wartebereich standen Ledersessel und ein Tischchen voller Informationsbroschüren.
Die Ruhe nach der Hektik ihres Besprechungszimmers legte sich wie Balsam auf seine Nerven. Die Korridore wirkten verlassen. Die Mitarbeiter waren im Wochenende. Er ließ sich in einen der Sitze fallen und blätterte ziellos in seinem Katalog. Es war so unendlich frustrierend. Ihnen lief die Zeit davon. Inzwischen zweifelte er selbst daran, dass diese Art von Detektivarbeit sie weiterbrachte. Vielleicht hatte Tal recht. Vielleicht fanden sie am Ende heraus, welcher Platz auf diesen Bildern zu sehen war, und dann legte Fedorow das Treffen auf einen ganz anderen Ort.
Nikolaj würde die Stadt wieder verlassen und sie hätten seine Spur für alle Zeiten verloren. Und warum meldete sich Carmen nicht? Sie hatte versprochen, erneut anzurufen, sobald sie Ort und Zeitpunkt des Treffens kannte. Die einfachste Erklärung war, dass Nik sie bei dem Versuch erwischt hatte.
Und dann?
Das führte zu nichts. Sie drehten sich im Kreis. Sein Zorn, den er so sorgfältig kultiviert hatte, wich innerer Erschöpfung. Er war müde, sein Geist zersetzt von Zweifeln und Selbstvorwürfen. Er klappte den Katalog zu und stöberte in den Broschüren auf dem Glastischchen, nur um die Hände zu beschäftigen. Deutsch–Israelische Beziehungen. Berlin besuchen. Berliner Kunstschätze und Kostbarkeiten.
Plätze mit Statuen. Diese verdammte Stadt war voll von Plätzen mit Statuen. Er überflog ein paar Zeilen. Der Autor hatte zu jeder Sehenswürdigkeit eine Anekdote verfasst, statt einfach nur nüchterne Fakten zu beschreiben. Er blieb an einer Geschichte zum Brandenburger Tor hängen, und dann zum Neuen Museum, das 1945 ausgebombt worden war. Es ging um einen Raum, der nie für Ausstellungen benutzt worden war, weil es darin angeblich spukte, nachdem sich in den Zwanzigern eine junge Frau aus dem Fenster zu Tode gestürzt hatte. Es gab aber noch eine andere Version der Geschichte, in der es hieß, sie sei von einem enttäuschten Verehrer hinunter gestoßen worden. Die Angestellten des Museums behaupteten, der Geist der unglücklichen Frau ginge im Raum um und hinterlasse jede Nacht blutige Handabdrücke auf den Fensterscheiben.
An dieser Stelle rastete etwas in seinem Verstand ein. Er blätterte eine Seite zurück und betrachtete das Foto, das die Ruine des Neuen Museums in einer Luftaufnahme zeigte.
*
Die Straßen rund um die Museumsinsel quollen über von Menschen. Ein frischer Wind trieb Kumuluswolken vor
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