Kill Order
sich her, die Sonne schien heiß für Anfang September. Zum Wochenende drängten Touristengruppen in die Stadt, was ein Vorteil war. Große Menschenmengen boten Sicherheit.
Nikolaj warf einen Blick zu Carmen, die neben ihm ging. Sie wirkte zum Zerreißen angespannt. Machte sie sich Sorgen wegen des bevorstehenden Treffens? Oder war es wegen der vergangenen Nacht? Wahrscheinlich beides. Wenn sie den heutigen Tag überlebten, mussten sie reden. Zu viele Worte hingen ungesagt in der Kluft, die zwischen ihnen aufgerissen war.
Sie überquerten die Spree auf Höhe der Großbaustelle, die das Neue Museum umgab. Ein Schild verkündete, dass die Renovierungsarbeiten bis zum Jahr 2015 abgeschlossen sein sollten. Plastikplanen und Gerüste verhüllten die Fassaden.
Sie ließen sich mit der Menge treiben, die Straße hinunter bis zur Alten Nationalgalerie. Das Gebäude, einem römischen Tempel nachempfunden, stand fünfzig Meter zurückgesetzt, dahinter ragten die Giebel des Pergamonmuseums auf. Der Platz vor dem Bau war als Garten angelegt und wurde nach Süden und Osten hin von den Kolonnaden begrenzt, einem gut hundert Meter langen, überdachten Wandelgang, der zugleich auch die Bodestraße abtrennte.
„Hier.“ Er blieb stehen. Der Anblick wühlte Erinnerungen in ihm auf wie Laub in einem schlammigen Gewässer. Es gab wenige Plätze in Berlin, die ihm so vertraut waren wie dieser. Sonnenstrahlen wärmten die alten Steine, aber in der Luft hing bereits eine Ahnung von Herbst. In der Nacht hatte es geregnet. Die Kronen der Bäume begannen sich gelb zu färben. Es roch nach feuchter Erde. Sie setzten sich wieder in Bewegung und wanderten langsam zwischen den Säulen entlang. Unter ihren Schuhsohlen knirschte Sand.
„Wo soll ich warten?“, fragte Carmen.
„Da drüben, kurz vor der Brücke. Da gibt es Behindertenparkplätze. Auf einem stellst du den Wagen ab. Wenn ich es dir sage, fährst du vor. Du wirst mich dann sehen.“ Er sah, wie sie tief Luft holte. „Mach dir nicht so viele Sorgen. Es wird nicht schwierig. Wirklich nicht.“ Außer, ergänzte er in Gedanken, dass alles auf Improvisation hinauslief. Keine Zeit für Vorbereitungen. Er stieß mit der Fußspitze gegen einen kleinen Stein.
„Können wir irgendwo noch was essen gehen?“, fragte sie.
*
Sie fanden ein kleines Café gegenüber dem Pergamonmuseum, wo sie im Freien sitzen und die Passanten beobachten konnten. Eine Kellnerin brachte ihnen die Karte, einen in Folie eingeschweißten Papierbogen, auf dem jedes Gericht mit einem Bild illustriert war.
Carmen registrierte, wie Nikolaj das Publikum musterte. Natürlich war er so angespannt wie sie selbst, obwohl er ihr etwas anderes zu suggerieren versuchte. Sie las es in seinen Augen und in der Art, wie er seine Finger bewegte. Seine Nerven lagen ebenso blank wie die ihren, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen.
Sie musste sich zwingen, in Ruhe die Karte zu studieren. Ihr ganzer Körper schrie danach, aufzuspringen und etwas zu unternehmen, dabei brauchte sie lediglich ein Telefon und zwei oder drei Minuten ohne Beobachtung. Sie legte die Karte zurück und stand auf. „Bestellst du mir einen Kaffee“, bat sie ihn, „und Würstchen mit Kartoffelsalat? Ich suche das Klo.“
„Sicher.“ Sein Tonfall klang normal. Keine Spur von Misstrauen. Als ihre Blicke aneinander hängen blieben, lächelte er sogar.
Sie drehte sich um und trat in den Gastraum. Drinnen waren die Tische leer, kalter Rauch hing in der Luft. Sie entdeckte die Toilettenschilder an der hinteren Raumwand. Eine Kellnerin kam ihr entgegen.
„Entschuldigung“, sie setzte ein hilfloses Lächeln auf. „Haben Sie vielleicht ein Telefon, das ich schnell benutzen könnte? Ich ...“, sie kramte in ihrer Hosentasche nach Geld, „bezahle auch dafür.“
Die Frau verzog entnervt das Gesicht. „Die Straße runter sind Telefonhäuschen, können Se’ nich ...“
„Es ist wirklich dringend“, stieß sie hervor. „Es geht um mein Kind, und ich ...“ Sie legte einen weinerlichen Ton auf, der nur zur Hälfte gespielt war. „Ach bitte, können Sie mir nicht kurz helfen?“
Die Kellnerin zog die Augenbrauen zusammen. „Wenn’s sein muss.“ Sie drängte sich hinter den Tresen und reichte ihr ein schnurloses Telefon. Carmen tippte mit zitternden Fingern die Nummer. Im Eingangsbereich entstand Bewegung. Eine männliche Silhouette. Nikolaj.
Heiß schoss Panik in ihr hoch. Sie ließ den Hörer fallen, als hätte sie sich verbrüht
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