Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kill Order

Kill Order

Titel: Kill Order Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
Vom Netzwerk:
war sehr attraktiv. Flüchtig dachte er, dass er sie mal zum Essen einladen musste.
    „Wir stehen nicht unter Zeitdruck“, sagte Katzenbaum. „Wir machen das in aller Ruhe. Wir haben genügend Ressourcen und den Vizedirektor, der uns den Rücken freihält.“ Er zündete sich eine weitere Zigarette an. „Das restliche Team trifft morgen im Laufe des Tages ein. Carmen wird dabei sein. Ich hoffe, du hast kein Problem damit?“
    Es kam nicht einmal besonders überraschend. Wenn die Zielperson Nikolaj Fedorow war und Lev ihn aus diesem Grund dabei haben wollte, dann war es nur logisch, dass er auch Carmen in seine Pläne einbezog. Es würde vielleicht nicht besonders angenehm werden, aber er konnte das aushalten.
    „Ich komme damit klar“, sagte er. „Kein Problem.“
    „Das sind die Unterlagen zur Rosenfeldt-Affäre.“ Lev deutete auf zwei dicke Aktenordner neben dem Tisch. Obenauf lag ein dünner Stoß Papiere in einer Klarsichtfolie. „Es gibt ein Kurzdossier, das du lesen solltest. Zu Fedorow haben wir praktisch keine Informationen. Jedenfalls nichts, das du nicht besser wüsstest.“
    Rafiq zog das Dossier aus der Hülle und blätterte durch die eng beschriebenen Seiten. „Kann ich runter auf die Straße, oder darf ich die Wohnung nicht verlassen?“
    „Kein Problem“, sagte Sofia. „Du bist ein Freund aus Damaskus. Wir kennen uns schon, seit wir Kinder waren. In diesem Haus wohnen nur Studenten. Sie sind es gewohnt, dass alle möglichen Leute ein- und ausgehen. Wir haben Semesterferien, da habe ich meine Bekannten eingeladen.“ Sie lächelte und entblößte weiße Zähne. „Sie erwarten, dass ihr euch amüsiert. Party und laute Musik, du weißt schon.“
    Mechanisch erwiderte er ihr Lächeln. Er erhob sich vom Sofa und verstaute das Dossier in der Innentasche seines Leinenjacketts. „Dann gehe ich eine Runde spazieren.“
     
    Er fand ein Café am Ende der Treppe, zwei Straßen von der Bibliothek der Amerikanischen Universität entfernt. Von seinem Tisch konnte er über die Dächer der tiefer gelegenen Straßenzüge bis zum Meer sehen. Obwohl es ein heißer Tag war, fühlte sein Magen sich kalt an. Er schlürfte seinen Kaffee in kleinen Schlucken und überflog die Seiten, ohne den Text wirklich zu lesen. Seine Gedanken waren weit fort, ein Durcheinander aus alten Bildern und verblassten Emotionen.
    Ein anderer Tag im Sommer kam ihm in den Sinn, der Buchladen seines Vaters im Jnah-Distrikt. Es war der Tag, an dem er Nikolaj, seinen neuen russischen Schulfreund, seiner Familie vorgestellt hatte. Nikolaj war ein stiller Junge, der selten seine Stimme erhob, weder im Zorn noch aus Begeisterung. Die alten Handschriften aber, die im Laden ausgestellt waren, nahmen ihn sofort gefangen.
    Das Geschäft im Jnah-Distrikt existierte nicht mehr, es war in den letzten Tagen des Bürgerkriegs durch eine Bombe zerstört worden, und mit ihm die pergamentenen Schätze in den Regalen. Das hatte dem alten Mann das Herz gebrochen. Rafiq wusste nicht, ob sein Vater danach je versucht hatte, das Geschäft wieder aufzubauen. So viel hatte sich seit damals geändert. Die Gründe ihres Streits waren hinfällig geworden. Das Böse hatte sein Gesicht verändert. Alles hatte sich verändert. Ein Feindbild, an das er einmal mit Leidenschaft geglaubt hatte, war ins Gegenteil verkehrt worden.
    Die Wege Gottes sind unergründlich, wie sein Vater zu sagen pflegte. Sein Vater war, obschon liberal, stets ein gläubiges Mitglied der schiitischen Gemeinde gewesen. Etwas, das Rafiq nicht von sich behaupten konnte. In dieser Hinsicht, wie auch in anderen, hatte er sich kaum als guter Sohn erwiesen.
    Er versuchte sich vorzustellen, wie der alte Mann reagieren würde, wenn er erfuhr, dass sein Junge für die Israelis arbeitete. Der Gedanke amüsierte ihn einen Moment lang, dann schob er ihn beiseite, weil sich ein bitterer Beigeschmack ausbreitete. Nikolaj trug die Schuld daran, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Rafiq hatte sich oft gefragt, was er getan hätte, wäre er in Nikolajs Lage gewesen. Hätte er seine Freunde verraten, um sich selbst freizukaufen?
    Mit den Jahren war er unsicher geworden. Todesangst ist eine mächtige Empfindung, sie relativiert alle anderen Werte. Wie war das, wenn man mit verbundenen Augen im Dreck kniete, die Handgelenke mit Kabelbinder auf den Rücken gefesselt und vor einem standen Typen vom Militär, die darüber diskutierten, ob sie einem die Kniescheiben zerschießen sollten? Wie hatte er selbst sich

Weitere Kostenlose Bücher