Kill Order
kannte nichts an ihm wieder. Der Nikolaj ihrer Erinnerung war weicher gewesen. Empfindsamer. Ein vollkommen anderer Mensch. Ihre Panik drohte in Hysterie umzuschlagen. Der Kerl, der sie hierher verschleppt hatte, war ein Killer. Einer, der von den großen Geheimdiensten gesucht wurde und von allen europäischen Polizeibehörden. Sie fragte sich, was geschehen musste, um einen Menschen derart zu verändern. Ihre Gedanken verharrten nicht lange genug auf der Frage. Stattdessen kreisten sie um ihre Angst. Angst vor dem, was vor ihr lag. Angst davor, ihn falsch eingeschätzt zu haben. Angst, dass eine unbesonnene Handlung sie das Leben kosten konnte.
Gott, sie waren naiv gewesen. So selbstsicher, so überzeugt von ihrem Plan. Hochmut kommt vor dem Fall. Es war eine demütigende Erkenntnis. Dabei war ihr Plan nicht schlecht gewesen. Er hätte funktionieren können. Wenn nicht plötzlich diese Revolvermänner aufgetaucht wären. Wer zum Teufel hatte die geschickt? Katzenbaum?
Nein, unmöglich. Dann hätte auch Rafiq davon gewusst, und Rafiq war ahnungslos gewesen. Das Gefühl von Machtlosigkeit überwältigte sie. Schluchzend sackte sie gegen die Wand. Was sollte sie jetzt tun?
*
Nikolaj schleppte sich den Hügel hinunter zum Auto. Erschöpft lehnte er sich gegen den Wagen. Die Muskeln in seinen Beinen zitterten. Mit Carmen stand ihm ein schwerer Gang bevor. Er bezweifelte, dass sie ihm freiwillig sagen würde, was er wissen wollte. Was sollte er tun? Es aus ihr herausprügeln? Die Vorstellung verursachte ihm Übelkeit.
Schwer atmend stieß er sich vom Auto ab und brach das Schloss an der Heckklappe auf. Im Kofferraum fand er eine Rolle mit Werkzeug, zerschlissene Decken und eine halb aufgerissene Packung mit Wasserflaschen. In einer Seitentasche lag eingeklemmt zwischen Zeitungen und Schokoriegelpapier eine Taschenlampe. Er raffte alles Brauchbare zusammen und trug die Sachen hinauf in die Höhle. Dort schaltete er die Lampe ein und legte sie auf dem Felsboden ab. Seine Augen brannten, er war todmüde. Inzwischen bereitete es ihm Mühe, sich auch nur auf einfachste Handgriffe zu konzentrieren. Er sah ein paar Mal zu Carmen herüber, wie sie an der Wand lehnte, ein dünner Blutfaden in ihrem Mundwinkel. Schließlich stand er auf und ging zu ihr, um den Knebel zu entfernen. Heftig riss sie den Kopf zur Seite.
Er sah, dass sie geweint hatte. Ihre Augen waren glasig und blutunterlaufen, die Wimpern glänzten feucht. Etwas in ihm verhärtete sich. Er durfte nicht zulassen, dass Mitleid seine Handlungen bestimmte. Hier ging es um ihn, um seine Sicherheit, um sein Leben. Für Gefühlsduselei blieb da kein Platz. Er streckte ein zweites Mal die Hand aus und wieder zuckte ihr Kopf zurück. „Halt still“, sagte er. „Ich will es dir nur bequemer machen.“
*
Carmen war überrascht, wie brüchig seine Stimme klang. Die Schulterwunde musste ihm zu schaffen machen. Gebannt verfolgte sie, wie er sich abwandte, um in dem Haufen aus Kisten und Decken zu wühlen. Als er zurückkam, sah sie, dass er eine Rolle Textilklebeband in der Hand hielt, das Zeug, mit dem man auch Kabel reparieren konnte.
Gott, sie hasste ihn in diesem Moment. Seine Kälte, seine Überlegenheit, die ruhige Methodik, mit der er sie manipulierte. Sie hasste ihn, weil er eine Art von Furcht in ihr wachrief, die sie beinahe vergessen hatte.
Sie leistete keinen Widerstand, als er ihre Hand- und Fußgelenke mit dem Gewebeband zusammenschnürte. Sie fand einfach keine Kraft dafür. Ihre Muskeln und ihr Wille waren gleichermaßen erlahmt. Wenigstens verzichtete er dieses Mal auf den Knebel. Sie musterte sein blutgetränktes Hemd und sah, dass bei jeder Bewegung Schmerz über sein Gesicht zuckte. Wieder fesselte er ihre Hände an die Eisenkrampe. Dafür hasste sie ihn noch mehr. Er legte eine Wolldecke um ihre Schultern.
„Versuch zu schlafen“, sagte er.
Die Decke war muffig und stank nach Benzin.
„Leck mich!“ Schwach brach sich ihre Stimme an den Kalksteinwänden.
*
Der Stoff war steif und dunkel von getrocknetem Blut und klebte an der Wunde fest. Eine Welle von Übelkeit überspülte Nikolaj, als er das Hemd mit Gewalt ablöste. Er musste einen Moment innehalten, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Vorsichtig tastete er nach seiner Schulter. Es blutete wieder, aber nicht so stark, wie er befürchtet hatte. Das Projektil hatte eine tiefe Schramme gerissen, die sich vom
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