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Kill Order

Kill Order

Titel: Kill Order Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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zitterten. Plötzlich wirkte sie fragil und sehr verletzlich.
    Eine Welle von Scham spülte über ihn hinweg und erstickte die letzten Reste des Zorns. Er fühlte nur noch Müdigkeit, Erschöpfung und den dumpfen Schmerz, der in seiner Schulter pulsierte. Er nahm die Hand von ihrer Kehle und drehte sich zurück in seinen Sitz, ohne die Pistole zu senken. „Fahr weiter. Und fahr vorsichtig, um Gottes Willen.“
     
    Der Eingang zu den Höhlen lag ein Stück hangaufwärts und war von der Talsohle aus nicht zu erkennen. St. Erasmus hatte Jahrhunderte lang Einsiedlern als Wohnstätte gedient. Eine Schlafkammer, ein Gebetsraum, ein Platz für die Ziegen. Von der dazugehörigen Kapelle weiter oben am Berg existierten nur noch Fundamente.
    Sie parkten abseits der Straße in dichtem Gebüsch. Carmen stellte den Motor ab. Ein leichtes Rauschen ging durch die Bäume, irgendwo rief ein Käuzchen. Die plötzliche Ruhe klang betäubend laut in den Ohren.
    Nikolaj öffnete die Wagentür. „Gehen wir.“
    Sie schaute ihn nicht an. Mit gesenktem Blick stieß sie die Fahrertür auf und stieg aus. Er folgte ihr. Jede Bewegung trieb ihm feine Schweißperlen auf die Stirn. Für einen Augenblick begann sich alles um ihn zu drehen, dann fing er sich wieder. Steifgliedrig umrundete er den Wagen und berührte sie am Rücken. „Komm.“
    Sie reagierte nicht. Er packte sie am Arm und zog sie mit sich. Sie stolperte und ihm fiel auf, dass sie keine Schuhe trug. Ungeduldig zerrte er sie wieder auf die Beine und weiter die grasbewachsene Steigung hinauf. Sie drangen in das Dickicht aus Kiefern und Lorbeersträuchern ein. Der Geruch nach Harz und trockenen Nadeln wurde durchdringend.
    Carmen blieb irgendwo hängen und knickte mit einem kleinen Schmerzenslaut ein. Er löste seinen Griff, um nachzufassen und ihren Sturz abzufangen. Im gleichen Augenblick trat sie seitwärts gegen sein Knie, ein Schlag, der nicht viel Schaden anrichtete, ihn aber für einen Moment aus dem Gleichgewicht brachte. Überraschend schnell war sie wieder auf den Beinen und floh zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    Er holte sie schon nach ein paar Metern ein, ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Sie war barfuß und konnte nicht so schnell laufen, wie es ihr mit festem Schuhwerk möglich gewesen wäre. Er erwischte sie mit einem Sprung und riss sie mit sich zu Boden. Die Erschütterung schickte stechende Schmerzen durch seine Schulter. Er spürte, wie die Wunde wieder anfing zu bluten. Carmen wand sich unter seinem Gewicht beim vergeblichen Versuch, sich zu befreien. Er schlug ihr ein paar Mal flach ins Gesicht, bis sie aufgab und still liegen blieb.
    „Verdammt“, keuchte er, „was soll der Scheiß?“
    Sie zitterte, und dann bemerkte er, dass sie weinte.
     
    *
     
    Im Innern der Höhle empfing sie eine kühle und trockene Dunkelheit. Carmen hörte ein Klicken, dann flammte das Feuerzeug in Nikolajs Hand auf. Er hielt die kleine Flamme mit ausgestrecktem Arm vor sich. Im schwachen Lichtschein waren Eisenkrampen zu erkennen, die in die Wände eingelassen waren und die einst dazu gedient haben mochten, Vieh festzubinden. Die Schwärze schloss sich erneut um sie wie eine schwarze Decke, als er die Flamme verlöschen ließ.
    Seine Finger um ihren Unterarm waren wie Stahlklammern. Sie hörte, wie er an seinem Gürtel nestelte, dann packte er auch ihren zweiten Arm und zog ihn über ihren Kopf. Er fesselte ihre Handgelenke an einen der Eisenringe. Entsetzen verschlug ihr die Sprache, sie wollte sich wehren, doch ihre Glieder fühlten sich an wie die einer Stoffpuppe. Er entzündete erneut das Feuerzeug und blickte ihr ins Gesicht. Mit der Zunge tastete sie nach einer blutenden Stelle in ihrem Mundwinkel.
    „Ich bin gleich zurück“, sagte er.
    Das Licht erlosch, seine Schritte entfernten sich. Sie war allein. Nun zerrte sie doch an ihren Fesseln. Die Kanten des Gürtels schnitten ihr in die Haut. Sie schloss die Augen und blinzelte die Tränen fort, die schwer in ihren Wimpern hingen. Es war ein Alptraum. Unwirklich.
    Sie fühlte sich wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper, wie ein Geist, ein unbeteiligter Beobachter. Ihre Füße brannten, ihre Haut war von Kratzern übersät. Sie hatte sich den rechten Fußknöchel verstaucht und beide Knie aufgeschlagen. Ihre Gedanken waren ein Malstrom. Wie besessen kreisten sie um die Frage, was sie nun tun sollte.
    Der Mann, der einst Nikolaj Fedorow gewesen war, hatte sich in einen Fremden verwandelt. Sie

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