Kill Order
presste die Lippen zusammen vor Konzentration. Und ihre Handgelenke waren wund gescheuert und brannten.
Nikolaj hatte kurz nach ihrer Ankunft in Sur das Hotelzimmer verlassen und war noch nicht zurückgekehrt. Sie vermutete, dass er nach einer Möglichkeit suchte, das Land zu verlassen. Auf ihre Fragen hatte er nicht geantwortet. Und wahrscheinlich würde er versuchen, sie mitzunehmen. Seine Beweggründe waren ihr unklar. Sie hatte ihm alles gesagt, was er wissen wollte. Nicht umsonst hatte sie versucht, die Preisgabe ihres Auftraggebers herauszuzögern, wenn auch nicht aus Loyalität zum Mossad. Sie hatte befürchtet, dass sie danach nutzlos für ihn sein würde. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden gab es keinen Grund mehr für ihn, sie am Leben zu lassen. Dass er sie dennoch nicht erschossen hatte, ließ sich mit rationalen Argumenten nicht erklären.
Nikolaj hatte keine Hemmungen, jemanden zu töten. Das hatte er in ihrem Apartment unter Beweis gestellt und später auf der Straße nach Hermel, als er auf den Fahrer des Militärjeeps feuerte. Was war also der Grund? Sentimentalität? Ein Tribut an alte Zeiten? Oder erwartete er, dass er sie als Geisel noch brauchen würde?
Der Morgen im Hotel in Hermel hatte sich seltsam normal angefühlt. Das irritierte sie noch stärker als die Gewaltausbrüche, die unweigerlich folgten, wenn sie Widerstand versuchte. Sein Handeln schien einem Plan zu folgen, den sie aber nicht kannte. Die Frage war nur, wie lange sie noch als Bestandteil dieses Plans gebraucht wurde. Und was danach passierte.
Vor. Zurück.
Das Klebeband gab nach. Sie ruckte heftig daran. Die Fasern überdehnten und rissen mit einem Knirschen. Ihre rechte Hand war plötzlich frei. Rasch fuhr sie mit der Zunge über das Handgelenk, um den Grad der Verletzung abzuschätzen. Sie schmeckte Blut, aber nicht sehr viel.
Vorsichtig streckte sie ihren Arm zum Nachttisch aus und stöhnte auf vor Enttäuschung, weil sie nicht weit genug reichte. Sie nahm die freie Hand zur Unterstützung, um auch den anderen Arm zu befreien.
Dann die Füße. Mit einem Fingernagel löste sie das Ende des Klebestreifens und zog die Lagen ab. Euphorisch und furchtbar nervös zugleich sprang sie vom Bett auf und schaltete das Licht ein. Sie zerrte sich den Hedschab vom Leib, den Nikolaj ihr in Hermel aufgezwungen hatte, ein schwarzes, sackartiges Gewand, das sich unförmig um ihren Körper bauschte. Darunter trug sie immer noch seine Jeans und das T-Shirt.
Unwillkürlich musste sie an Rafiq denken, an einen anderen Morgen, an dem sie die Kleider eines Mannes getragen hatte. Zu großes T-Shirt, zu weite Jeans. Barfuß in die Küche zu tappen, Kaffee aufzusetzen, während die Sonne helle und dunkle Streifen auf den Küchenboden malte. Während im Shirt noch der Geruch des Mannes hing, mit dem sie geschlafen hatte.
Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. Zaghaft drückte sie die Türklinke herunter. Es war abgeschlossen, aber das hatte sie erwartet. Sie riss einen Fensterflügel auf und beugte sich weit hinaus. Eine weiß gekalkte Wand, drei Stockwerke tief, keinerlei Vertiefungen oder Vorsprünge. Springen war unmöglich. Das Fenster lag viel zu hoch.
*
Zu Fuß überquerten Rafiq und Katzenbaum die breite Hafenpromenade von Tripoli und blieben an der Kaimauer stehen. Die Nachtluft war mild, ein leichter Wind strich durch die Baumkronen. Doch keiner der beiden Männer hatte Sinn für die Schönheit des Abends.
„Das hätte so nicht laufen sollen.“ Katzenbaum ließ die Zigarette auf die Steinplatten fallen und trat sie mit dem Absatz aus.
In diesem Moment klingelte Rafiqs Handy. Er nahm ab und presste es ans Ohr. „Wie geht es dir, mein Freund?“ Shoufani klang aufgeräumt, geradezu fröhlich.
„Das hängt davon ab, welche Neuigkeiten du für mich hast.“
„Oh, wunderbare Neuigkeiten“, schwärmte Shoufani. „Neuigkeiten, die einen Koffer voller Geld wert sind. Aber du bist mein Freund, und ich bin in großzügiger Stimmung.“ Er lachte. „Ich sage dir was. Ich tue etwas für dich, und nächste Woche essen wir gemeinsam und dann sage ich dir, was du für mich tun kannst.“
„ Insha’allah “, murmelte Rafiq. „Einverstanden.“
„Dein Mann besteigt morgen Abend ein Boot nach Zypern. Er hat einen Handel mit Schmugglern geschlossen, die bringen ihn von Sur aus übers Meer. Der Kapitän sagt, ihr sollt warten, bis er ihn an der zypriotischen Küste abgesetzt hat. Wenn ihr vorher zuschlagt,
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