Kill Order
Hang hinunter entdeckte er weitere Leichen. Der sandige Boden unter den Körpern war dunkel vom Blut. Lange musterte er die Toten. Hier war etwas schrecklich schief gelaufen. Er fragte sich, wie ein einzelner Mann es schaffen konnte, solch ein Massaker anzurichten. Noch dazu, wo sie die Überraschung auf ihrer Seite gehabt hatten.
Und dann fiel ihm auf, dass der Tote zu seinen Füßen von einer Kugel in den Rücken getroffen worden war. Der Mann lag mit dem Gesicht im Sand. Rafiqs Nacken begann zu kribbeln. Er folgte dem Bachbett weiter hinunter bis zum Steg und fand beinahe sofort die Stelle, an der Carmen und Nikolaj an Land gegangen waren. Zwei Fußpaare, eines davon barfuß, die Abdrücke tief in den Sand gegraben. Er lief neben den Spuren zurück. Sie endeten an der Stelle, an der die Leichen lagen. Zwischen den Steinen fand er eine Taschenlampe.
Hastig begann er, auch die anderen Toten zu untersuchen. Der zweite Mann war durch eine Kugel im Genick gestorben. Auch hier musste der Schütze von schräg hinter ihm gefeuert haben. Der dritte Mann lag ein Stück entfernt, halb versteckt im Unterholz. Er war der Einzige, der von vorn getroffen worden war.
Scheiße.
Das Kribbeln in seinem Nacken wurde stärker. Was war hier geschehen?
Nikolaj und Carmen waren den Weg hinaufgestiegen. Dann verloren sich ihre Fußspuren seitlich im Gebüsch. Wenn hier die erste Konfrontation stattgefunden hatte, war es nicht Fedorow gewesen, der die beiden Männer auf dem Weg getötet hatte. Wer dann?
Wieder vergegenwärtigte Rafiq sich die Augenblicke vor seinem Kampf mit Nikolaj. Er fühlte sich, als geriete der Boden unter seinen Füßen ins Schwanken. Abrupt wandte er sich ab und stapfte den Bachpfad hinauf. Er musste Katzenbaum finden.
*
Die Fähre nach Piräus war in den frühen Morgenstunden in den Hafen eingelaufen. Sie kam von Haifa und würde am Nachmittag in Richtung Rhodos weiterfahren. Mit großen blauen Buchstaben war der Name der Fährgesellschaft auf den Rumpf gezeichnet, Poseidon Lines.
Hinter der verzinkten Absperrung drängten sich Menschen. Es war kurz nach elf, das Einsteigen hatte begonnen. Carmen stand breitbeinig über ihrer Tasche und beobachtete Nikolaj, der an der Mauer lehnte und rauchte. In seinen neuen Klamotten sah er aus wie ein Rucksacktourist. Er trug zerschlissene Jeans und ein petrolfarbenes T-Shirt, darüber eine alte Drillichjacke, die sie in einem Second-Hand-Laden erworben hatten. Die Nickelbrille verlieh ihm einen introvertierten Ausdruck. Carmen hatte sich die Haare rot gefärbt und ein paar Rastazöpfchen hinein gedreht. Fast fühlte sie sich wieder wie die achtzehnjährige Revolutionsromantikerin, die losgezogen war, um die Welt zu verändern.
Plötzlich kam Bewegung in die Menge. Nikolaj stieß sich von der Mauer ab und schulterte sein Gepäck. Carmen tat es ihm gleich. Sie klaubte den Reisepass aus ihrer Brusttasche, ein abgegriffenes Dokument voller Stempel, dem man nicht ansah, dass es erst gestern angefertigt worden war. Eva Maria Nielsen lautete ihr neuer Name, Herkunftsland Dänemark. Sie sprach eigentlich kein Dänisch, und unter anderen Umständen wäre das ein Problem gewesen, aber Nikolaj hatte entschieden, dass sie es eben darauf anlegen mussten. Für maßgeschneiderte Dokumente hätten sie mehrere Tage warten müssen. Deshalb hatte der Fälscher einfach zwei vorhandene Pässe umgearbeitet.
Langsam rückte die Schlange vor. Carmen erhaschte einen Blick auf die beiden uniformierten Beamten, die Fahrkarten und Ausweise kontrollierten. Vor ihr wartete eine Familie mit drei Jungen. Lautstark stritten die Kinder um eine Wasserpistole.
Nikolaj ließ den Zigarettenrest fallen. Mit der rechten Hand schob er das Brillengestell nach oben. Zum ersten Mal fiel ihr das Narbengeflecht auf, das seinen Handrücken bedeckte.
Ich bin eingeknickt, als sie mir die rechte Hand zerschlagen h a ben . Sie dachte an ihre Unterhaltung während der nächtlichen Überfahrt auf dem Schmugglerkahn und verspürte ein diffuses Schuldgefühl. Sie versuchte den Grund auszuloten, während sie den Disput zwischen den Kindern verfolgte. Lag es daran, dass sie seine Version der Ereignisse so selbstverständlich als Lüge abgetan hatte? Dass sie sie im Grunde noch immer nicht akzeptieren wollte? Unwillig presste sie die Lippen zusammen. Er konnte seine Behauptungen nicht beweisen. Doch das hatten die Israelis auch nie getan. Ihr wurde klar, dass sie wollte, dass seine Version die richtige war. Auch
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