Kill Whitey
bemerkte, der im hinteren Bereich des Lokals an eine Tür gelehnt stand. Ich vermutete, dass sie zu einem Büro führte. Er beobachtete Sondra ebenfalls, wirkte dabei jedoch nicht lüstern, sondern wütend. Er war klein und pummelig, aber nicht fett, und wahrscheinlich Ende dreißig oder Anfang vierzig. Ein langer Kinn- und Schnurrbart zierte sein Gesicht. Seine gesamten Haare – im Gesicht, auf dem Kopf, sogar die Augenbrauen – waren schlohweiß. Weder grau noch silbrig, sondern elfenbeinfarben. Es gab keinerlei schwarze oder braune Strähnen. Er war kein Albino, hatte keine roten Augen oder dergleichen, doch sein weißes Haar war auffallend – und irgendwie beunruhigend.
Tonya leckte sich über den Zeigefinger und strich damit Yuls Hals entlang. Dabei hinterließ sie eine Speichelspur, die auf der Haut glitzerte. Sie bewegte sich schneller auf seinem Schoß. Yuls Hände zuckten. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schloss die Augen.
»Nicht vergessen«, warnte sie ihn, »kein Anfassen. Whitey beobachtet uns.«
»O-okay.«
Darryl wandte sich ihr zu. »Whitey? Wer ist Whitey?«
»Der Besitzer«, klärte Jesse ihn auf. »Der Bursche dort hinten mit dem weißen Haar. Mit dem sollte man es sich nicht verscherzen. Sein richtiger Name ist Zakhar Putin, aber wegen seiner Haare nennen ihn alle Whitey.«
Ich starrte weiter auf Sondra. »Putin? Wie der russische Präsident?«
»Genau«, bestätigte Tonya. »Aber sie sind nicht verwandt. Obwohl er angeblich von irgendeinem berühmten Russen abstammt, der längst tot ist. Spielt bei ihm keine Rolle. Er hat Beziehungen. Und Jesse hat recht. Mehr als das möchtet ihr bestimmt nicht über ihn wissen.«
Ich nickte. Das ergab Sinn. Das Lokal hieß Odessa , die Rausschmeißer sprachen Russisch, und auch viele der Stripperinnen ließen einen russischen Akzent erkennen – abgesehen von Tonya, die dem Klang nach zu urteilen aus der Gegend von Baltimore stammte. ›Er hat Beziehungen‹, hatte Tonya gesagt. Was bedeutete, dass Whitey der Mafia angehörte – der Russenmafia. Ich hatte Gerüchte gehört, denen zufolge sie gerade in York Einzug hielt. Unlängst hatte ein ausführlicher Bericht darüber in der Zeitung gestanden. Laut Polizei versuchte sie, das organisierte Verbrechen in York zu übernehmen. Die Nähe zu sämtlichen Metropolen der Ostküste gestaltete York für die Mafia ebenso erstrebenswert wie für unseren Arbeitgeber. Es war wie im Immobiliengeschäft – die Lage zählte. Beherrschte man York, kontrollierte man einen Großteil des Warenstroms. So war es schon immer gewesen. Früher mal hatten die Griechen das Kommando. Unter ihnen verliefen die Dinge recht friedlich, und Mitte der 60er halfen sie sogar, Rassenunruhen einzudämmen. In den 70ern riss die Familie Marano aus New Jersey die Macht an sich. In den 80ern allerdings, als die Italiener anfingen, sich gegeneinander zu wenden, oder hochgenommen wurden, ging die Herrschaft auf die Drogenbanden über – Ableger der Bloods und Crips sowie verschiedene Latinogangs aus Philadelphia, Washington, D. C. und Baltimore. Gewalt hielt Einzug. Leichen türmten sich. In den 90ern kamen die Italiener eine Weile zurück, lang genug, um die Gangs zu vertreiben. Die Familie Marano erlangte die Kontrolle wieder, doch dann starb der alte Marano, und sein bester Mann, Tony Genova, verschwand. Danach wurde ein Großteil der Leute der Maranos eingebuchtet oder zu Spitzeln der Bundesbehörden. Seither war York quasi herrenlos gewesen. Die Drogenbanden kehrten zurück und zankten sich mit Bikern und örtlichen Dealern, aber niemand hatte die totale Kontrolle an sich gerissen. Nun unternahmen die Russen den Versuch.
Ich hatte gelesen, dass sie die Finger überall drin hatten. Geldwäsche, Erpressung, Drogenhandel, Waffenschmuggel, Autodiebstahl, Mädchenhandel, Prostitution, Entführung, inszenierte Autounfälle zwecks Versicherungsbetrug, Geldfälscherei, Kreditkartenbetrug und natürlich Mord. Ich fragte mich, wie viel sich davon hier in der Gegend und nicht nur in den Großstädten abspielte. Viele der großen Bosse waren ehemalige KGB-Offiziere, die nach dem Ende des Kalten Kriegs arbeitslos geworden waren. Als Vollstrecker setzten sie Spetsnaz ein – Mitglieder russischer Spezialeinheiten, wirklich furchterregende, üble Mistkerle. Laut dem Zeitungsbericht hatten sie sogar Olympia-Scharfschützen angeheuert, um Auftragsmorde für sie auszuführen.
Natürlich ging man nicht davon aus, dass sich solche
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