Killashandra
Killashandra Lars erstaunt an, als sie geendet hatten. Das war eine Unverschämtheit... Dann fiel ihr ein, daß die Leute ihn zum Singen aufgefordert hatten; allerdings beschrieb der Text sehr gut ihre Lage, und der unverschämte Lars Dahl hatte mit keiner Wimper gezuckt.
Und warum auch? Die Künstlerin in ihr stritt mit der persönlichen Wut. Die Musik war wunderschön und offensichtlich ein Lieblingsstück der Inselbewohner, denn nach dem letzten Ton schwiegen die Zuhörer andächtig.
Dann streckte der Bariton einen Arm aus, und ihm wurde ein zwölfsaitiges Instrument übergeben, das er an Lars Dahl weiterreichte.
»Auch wenn den Musikmeistern deine Komposition für das Sommerfestival nicht gefallen hat, Lars, wir wollen sie hören.«
Diese Bitte bereitete Lars Dahl offenbar einiges Unbehagen, denn sein Mund zuckte. Er senkte den Kopf, um den Blicken der Menschen auszuweichen.
Dann holte er tief Luft und nahm widerstrebend das Instrument entgegen. Er preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, während er einen Akkord anschlug, um die Stimmung zu prüfen. Lars blickte weder zu Olav, dessen Wunsch er nicht abschlagen konnte, noch zum Publikum. Mit leerem Gesicht atmete er tief ein und konzentrierte sich auf die Darbietung. Die schreckliche Enttäuschung, der Schmerz der Zurückweisung und das Gefühl des Versagens beim Konservatorium standen Lars deutlich im Gesicht geschrieben. Ihre bisher etwas zynische Einschätzung änderte sich schlag-artig. Sie war möglicherweise die einzige im gesamten Publikum, die seine Gefühle verstehen konnte, die begriff, in welch tiefem, brennendem Konflikt er in diesem Augenblick war. Und sie lernte den professionellen Musiker in ihm schätzen, der ohne Widerstreben die Herausforderung annahm. Lars Dahl besaß das Zeug zu einem großen Künstler.
Trotz ihrer Nähe verpaßte sie beinahe die ersten flü-
sternden Akkorde, die seine kräftigen Finger den Saiten entlockten. Ein gespenstischer Akkord, der sich aus-dehnte und zur Dominante wechselte, genau wie der Morgenwind im alten Brotbaum auf ihrer einsamen Insel. Weiches Grau und Rosa, während der Himmel heller wurde, dann die kräftige Sonne, die den über Nacht geschlossenen Blüten Wärme spendete und ihnen betö-
rende Düfte entlockte. Der lauter werdende Gesang der Vögel, das leichte Murmeln der Wellen am Strand, der erwachende Geist, der sich auf den neuen Tag freut, auf die Pflichten des Tages: auf den Baum zu steigen, um reife Früchte zu ernten, auf die Landzunge gehen und angeln, die Sonne auf dem glitzernden Wasser, der aufkommende Wind, die Sommerfarben des Tages, der Duft von bratendem Fisch, die Schläfrigkeit des Mittags, wenn die Sonne die Menschen in die Hängematten und auf die Matten scheuchte ... Ein ganzer Tag im Leben eines Inselbewohners lag in dieser Musik, farbenfroh und duftend, und Killashandra begriff nicht, wie es ihm gelang, diese Fülle von Sinneseindrücken auf einem beschränkten zwölfsaitigen Instrument zu vermitteln. Sie war bereit, die nächsten schwarzen Kristalle, die sie fand, fortzugeben, nur um zu hören, wie diese Musik auf der optherianischen Orgel klang!
Und die Musikmeister hatten seine Komposition ab-gelehnt? Nun begann sie zu verstehen, warum er Lust hatte, sie zu ermorden und warum er sie entführt hatte: um die Reparatur der großen Orgel zu vereiteln und dadurch zu verhindern, daß weniger würdige Kompositionen von irgend jemand anders gespielt wurden. Und doch gab es in ihrer kurzen Bekanntschaft mit Lars Dahl, im Auftritt dieses Abends, nicht einmal in seinem widerstrebenden Fügen in die Forderungen der Inselbewohner, irgend etwas, das darauf hindeutete, daß der Mann eine so tiefe Rachsucht empfinden konnte.
Als der letzte Akkord, der den Aufgang des Mondes beschrieb, verklungen war, legte Lars Dahl das Instrument behutsam ab, drehte sich brüsk um und marschierte fort.
Die Leute murmelten teilweise beifällig und teilweise bedauernd, einige Gesichter schienen sogar ärgerlich, und insgesamt schienen ihre Reaktionen besser zur Schönheit des Stücks zu passen als ein ungestümer Applaus. Dann begannen die Menschen leise in kleinen Gruppen zu reden, und einer der Gitarristen versuchte, eine täuschend einfache Melodiefolge aus Lars' Komposition zu wiederholen.
Killashandra sah sich um, um sich zu vergewissern, daß sie nicht beobachtet wurde, erhob sich vorsichtig und zog sich aus dem flackernden Fackelschein zurück. Als ihre Augen sich auf die Dunkelheit
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