Killerwelle
keine Zeit mehr!«
Aber Cabrillo gab keine Antwort.
16
Juan war so tief in die Bohrinsel J-61 vorgedrungen, dass ihre Stahlwände den Empfang und das Senden mit seinem Walkie-Talkie unmöglich machten. Wahrscheinlich hätte er Max’ Warnung ohnehin nicht befolgt. Er hatte sich bereits zu weit vorgewagt, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.
Die Eingeweide der Plattform waren so verwirrend wie ein kretisches Labyrinth mit unzähligen Gängen, die kreuz und quer und vor und zurück verliefen. Es war auch nicht gerade eine Hilfe, dass seine kleine Lampe lediglich ein paar Schritte weit in die Dunkelheit vordrang. Mehrmals stieß er sich den Kopf an unsichtbaren Hindernissen und hatte mittlerweile mehrere Blutergüsse an seinem Schienbein und gewiss auch Dellen in seiner Prothese.
Cabrillo hatte ein hoch entwickeltes Raumgefühl und frühzeitig gewusst, wann die Oregon ihr Ziel erreichen und das Schiff aufrichten würde. Genauso konnte er spüren, dass sie im Begriff war, den Kampf, die Hercules über Wasser zu halten, zu verlieren. Die Schlagseite des Schiffes war deutlicher als zuvor, und als der Bohrturm ein paar Meter über das Deck geschrammt war, wusste er, dass seine Zeit knapp wurde. Dennoch zögerte er nicht und stellte sich keineswegs die Frage, ob er nicht schon genug getan hatte und lieber seine Haut retten sollte.
Er rannte eine geländerlose Stahltreppe hinunter, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, und hielt seinen lädierten Arm mit seinem gesunden fest, um ihn vor allzu heftigen Stößen zu schützen. So tief unten bestand die Bohrinsel aus einem dichten industriellen Wald wuchtiger Querstreben, zahlloser Schotts und dicker Metallpfeiler. Der Boden bestand aus blankem Stahl, bedeckt mit einem dünnen Ölfilm, der sich im Laufe der Zeit zu Teer verfestigt hatte. Er war rutschig und klebrig zugleich.
»Linda?«, brüllte er wieder, doch in der Stille, die auf seinen Ruf folgte, glaubte er diesmal etwas zu hören. Er rief den Namen abermals, jetzt noch lauter.
Da!
Es klang zwar gedämpft und undeutlich, aber er hörte tatsächlich eine Antwort. Er rannte in Richtung einer Frau, die um Hilfe rief. Im hinteren Teil des Saales befand sich ein separater fensterloser Raum. Zwar war ein Keil als zusätzliche Sicherung unter die Tür geklemmt worden, obgleich der Türgriff verriet, dass das Schott von außen verriegelt worden war.
»Linda?«
»Bist du das wirklich?«
»Gestatten, der Ritter vom Dienst, darf ich Sie retten?«, sagte er und setzte sich auf den Boden, um mit seinem künstlichen Bein auf den Keil einzuhämmern.
»Gott sei Dank«, seufzte Linda. »Du musst uns hier rausholen!«
»Uns?«, fragte Juan verblüfft, während er seine Bemühungen fortsetzte.
»Soleil Croissard wird hier seit Wochen gefangen gehalten.«
Noch während er sich weiter abmühte, sie zu befreien, begannen Cabrillos Gedanken zu wirbeln. Es gab doch gar keinen logischen Grund, weshalb Roland Croissard seine eigene Tochter einsperren und dann töten sollte. Sie war als Geisel hier – und damit wohl als Druckmittel, damit er die Befehle eines anderen ausführte. Smith? Er passte nicht in dieses Bild. Er war höchstens ein Handlanger, aber kein Superhirn. Jemand ganz anderer musste es sein. Sie hatten unzählige Stunden damit verbracht, Croissards Leben zu zerpflücken, nur gab es dort keinerlei Hinweise auf seine Ziele, wohl darum, weil es gar nicht seine Ziele waren. Irgendjemand anders zog im Hintergrund die Fäden, und sie hatten keine Idee, wer das sein konnte. Und wenn das Ziel darin bestanden hatte, jenen geheimnisvollen Gegenstand aus dem Dschungel zu holen, dann war Croissard höchstwahrscheinlich tot, und die Corporation hatte nichts in Händen.
Endlich löste sich der Keil aus dem Spalt und rutschte über den Stahlboden. Cabrillo stand auf und riss die Tür auf. Linda Ross stürzte ihm entgegen und ignorierte seinen verletzten Arm. Sofort breitete sie die Arme aus und begrüßte ihn mit einer Umarmung, die ihm Schmerz und Freude zugleich bereitete.
Hinter Linda erschien eine andere Frau, die es in dem dürftigen Lichtschein der Kugelschreiberlampe und nach so vielen Tagen der Entbehrung immer noch schaffte, atemberaubend schön zu sein. Ihr rabenschwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengerafft und unterstrich ihre großen braunen Augen. Die Proportionen ihres Gesichts konnten nicht anders als vollkommen genannt werden. Sie war fast genauso groß wie Cabrillo, dabei gertenschlank, und
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