Kind 44
Blut im Mund. Mit einem behandschuhten Finger tastete er vorsichtig zwischen seine Lippen. Seine Zähne fühlten sich rau an, als hätte man ihn gezwungen, Sand zu fressen. Da war eine Lücke. Ein Zahn war ausgeschlagen. Arkadi fing an zu heulen, spuckte in den Schnee und durchkämmte die Schweinerei nach seinem fehlenden Zahn. Irgendwie war es das Einzige, woran er jetzt denken konnte, das Einzige, was ihm wichtig war. Er musste seinen Zahn wiederfinden. Wo war sein Zahn? Aber er konnte ihn nicht finden, nicht in diesem weißen Schnee. Der Zahn war weg. Und es war nicht mal der Schmerz (obwohl es ganz schön weh tat), es war die Wut, der Zorn über diese Gemeinheit. Durfte er nicht ein einziges Mal gewinnen? Er hatte doch fair gewonnen. Konnte sein Bruder ihm das nicht gönnen? Nicht mal einen einzigen Sieg?
Jora rannte zu seinem Bruder. Kaum hatte der Klumpen aus Erde, Sand und Kieseln sich aus seiner Hand gelöst, hatte er seine Entscheidung schon bereut. Er hatte den Namen seines Bruders geschrien, damit der sich duckte und dem Ball auswich. Stattdessen hatte sein Bruder sich umgedreht und einen Volltreffer abgekriegt. Statt dass Jora ihm geholfen hatte, sah sein Warnruf jetzt aus wie eine ganz besonders heimtückische Finte. Als er näher kam, sah er Blut auf dem Schnee, und ihm wurde übel. Das war er gewesen. Ihre Schneeballschlachten machten ihm mehr Spaß als die meisten anderen Sachen, und jetzt hatte er sie in etwas Schreckliches verwandelt. Warum hatte er seinen Bruder nicht gewinnen lassen können? Morgen hätte er doch wieder gewonnen, und übermorgen und Tag um Tag darauf auch. Jora schämte sich.
Er ließ sich in den Schnee fallen und legte seinem kleinen Bruder die Hand auf die Schulter. Arkadi schüttelte sie ab und starrte ihn mit roten, tränennassen Augen und blutverschmiertem Mund an. Er sah aus wie eine wilde Bestie. Sagte keinen Ton. Sein Gesicht war wutverzerrt. Etwas unsicher rappelte er sich auf. »Arkadi?«
Statt einer Antwort riss Arkadi nur den Mund auf und schrie auf wie ein Tier. Alles, was Jora sehen konnte, war eine verdreckte Zahnreihe. Dann machte Arkadi kehrt und rannte weg.
»Arkadi! Warte!«
Aber Arkadi wartete nicht, blieb nicht stehen, wollte die Entschuldigung seines Bruders nicht hören. Er rannte, so schnell er konnte, und tastete dabei mit der Zunge nach der frischen Lücke in seinen Vorderzähnen.
Er fand sie, befühlte mit der Zungenspitze den Gaumen und hoffte, dass er seinen Bruder nie mehr wiedersehen müsste.
14. Februar
Angestrengt blickte Leo zum Apartmentblock Nr. 18 hoch. Ein niedriger Betonklotz. Es war später Nachmittag und schon dunkel. Er hatte einen kompletten Arbeitstag mit etwas vergeudet, das ebenso unangenehm wie unwichtig war. Laut einem Milizbericht über besondere Vorkommnisse hatte man einen vier Jahre und zehn Monate alten Jungen tot auf den Bahngleisen gefunden. Der Junge hatte abends auf den Bahngleisen gespielt und war von einem Reisezug erfasst worden, dessen Räder ihn zerstückelt hatten. Der Lokführer des Neun-Uhr-Zuges nach Chabarowsk hatte beim ersten Halt durchgegeben, dass er nach dem Verlassen des Jaroslawer Bahnhofs einen flüchtigen Blick auf jemanden oder etwas auf den Gleisen erhascht habe. Ob tatsächlich sein Zug den Jungen erfasst hatte, war noch nicht erwiesen. Vielleicht wollte der Fahrer nicht zugeben, dass er das Kind überfahren hatte. Aber das musste man nicht vertiefen – ein tragischer Unfall, da stellte sich die Frage nach dem Schuldigen nicht.
Normalerweise hätte man die Sache schon zu den Akten gelegt. Und normalerweise wäre Leo Stepanowitsch Demidow, ein Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes MGB, mit einem solchen Vorfall nie befasst worden. Was konnte er hier schon ausrichten? Der Verlust eines Sohnes brach einer Familie und den Verwandten das Herz. Aber auf staatlicher Ebene spielte so etwas, offen gesagt, keine Rolle. Unvorsichtige Kinder waren nun wirklich keine Angelegenheit für die Staatssicherheit – außer sie hatten eine unvorsichtige Zunge. Diese spezielle Situation allerdings hatte sich unversehens verkompliziert. Die Trauer der Eltern hatte seltsame Formen angenommen. Offensichtlich konnten sie nicht hinnehmen, dass ihr Sohn – Leo las noch einmal im Bericht nach und prägte sich den Namen Arkadi Fjodorowitsch Andrejew ein – selbst an seinem Tod schuld war. Sie hatten herumerzählt, ihr Sohn sei ermordet worden. Von wem? Keine Ahnung. Warum?
Keine Ahnung. Wie konnte so etwas
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