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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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überhaupt möglich sein? Auch keine Ahnung. Doch selbst ohne irgendwelche logischen oder plausiblen Argumente hatten sie die Macht des Mitgefühls auf ihrer Seite, und es war nicht auszuschließen, dass sie andere Leichtgläubige überzeugten: Nachbarn, Freunde und auch Fremde – wer immer ihnen zuhörte.
    Es machte die Sache nicht besser, dass Fjodor Andrejew, der Vater des Jungen, selbst ein niederer Beamter des MGB und, wie der Zufall es wollte, einer von Leos Untergebenen war. Abgesehen von der Tatsache, dass er es hätte besser wissen müssen, berief er sich zur Untermauerung seiner unhaltbaren Ansicht auch noch auf sein Expertenwissen und brachte so den MGB in Misskredit. Er war zu weit gegangen, hatte zugelassen, dass seine Gefühle die Oberhand über sein Urteilsvermögen gewannen. Ohne die mildernden Umstände hätte Leos Aufgabe leicht darin bestehen können, den Mann zu verhaften. Die ganze Sache war verfahren, und Leo war gezwungen worden, sich vorübergehend von einem echten und heiklen Einsatz abziehen zu lassen, um die Angelegenheit ins Reine zu bringen.
    Leo war nicht besonders erpicht auf die bevorstehende Konfrontation, also nahm er sich beim Erklimmen der Treppenstufen Zeit und sann darüber nach, wie er ausgerechnet in einem solchen Beruf hatte landen können – bei der Überwachung anderer Leute. Es war nie seine Absicht gewesen, in den Staatssicherheitsdienst einzutreten. Diese Laufbahn hatte sich aus seinem Militärdienst ergeben. Während des Großen Vaterländischen Krieges hatte man ihn einem Sonderkommando namens OMSBON zugeteilt, einer unabhängigen, Sonderoperationen vorbehaltenen Panzergrenadierbrigade.
    Das dritte und vierte Bataillon dieser Division hatte man aus dem Zentralinstitut für Körperkultur rekrutiert, wo Leo Student gewesen war. Diese Elite der Athletischsten und Gesündesten unter ihnen wurde ausgewählt und in ein Trainingslager in Mitischtschi nördlich von Moskau geschickt, wo man sie in Nahkampf, Waffenkunde, Fallschirmsprüngen aus niedriger Höhe und dem Umgang mit Sprengstoff unterrichtete. Das Lager gehörte zum NKWD, wie der Geheimdienst geheißen hatte, bevor die Staatssicherheitsabteilung zum MGB wurde. Die Bataillone waren nicht dem Militär, sondern unmittelbar dem NKWD unterstellt, und die Natur ihrer Missionen spiegelte dies auch wider. Sie wurden hinter feindliche Linien geschickt, wo sie die Infrastruktur zerstörten, spionierten, Feinde ermordeten – verdeckt operierende Nahkampfspezialisten.
    Leo hatte die Unabhängigkeit bei seinen Operationen genossen, obwohl er diese Empfindung lieber für sich behielt. Die Tatsache oder vielleicht auch nur Illusion, sein Schicksal in den eigenen Händen zu haken, hatte ihm gefallen. Er war regelrecht aufgeblüht – mit dem Ergebnis, dass man ihm den Suworow-Orden zweiter Klasse verliehen hatte. Seine Besonnenheit, seine militärischen Erfolge, sein gutes Aussehen und vor allem sein unbedingter und aufrichtiger Glaube an sein Land hatten dazu geführt, dass er buchstäblich zum Plakatmotiv für die russische Befreiung der von Deutschland okkupierten Gebiete geworden war. Man hatte ihn mit einem bunt zusammengewürfelten Haufen Soldaten aus verschiedenen Divisionen fotografiert, wie sie rings um das brennende Wrack eines deutschen Panzers standen, die Gewehre hochgereckt, mit Siegermiene und toten Feinden zu ihren Füßen, während von den schwelenden Dörfern im Hintergrund Rauch aufstieg.
    Tod und Zerstörung und triumphierendes Lächeln, und Leo mit seinem ebenmäßigen Gebiss und den breiten Schultern hatten sie ganz nach vorne geschoben. Eine Woche später hatte die ›Prawda‹ das Foto auf der Titelseite abgedruckt, und danach hatten vollkommen Fremde, Soldaten ebenso wie Zivilisten, seine Hand schütteln und ihn umarmen wollen. Leo, ein Symbol des Sieges.
    Nach dem Krieg war Leo dann von der OMSBON zum eigentlichen NKWD versetzt worden. Es schien ein ganz logischer Schritt zu sein, und Leo hatte ihn nie in Zweifel gezogen. Seine Vorgesetzten hatten seinen Werdegang vorgezeichnet, und er war mit hoch erhobenem Haupt marschiert. Sein Land hätte alles von ihm verlangen können, er wäre zu allem bereit gewesen. Er hätte sogar die Gulags bei Kolyma in der arktischen Tundra kommandiert, wenn man es ihm befohlen hätte.
    Sein einziger Ehrgeiz war es, seinem Land zu dienen.
    Einem Land, das den Faschismus bezwungen hatte, in dem Bildung und das Gesundheitswesen umsonst waren, das die Rechte der Arbeiter in der

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