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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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und Blut liefen ihm aus der Nase.
    Seine Fußlappen hatten sich vollkommen aufgewickelt, sodass die Zehen hervorlugten. Oksana eilte zu ihm.
    »Wo ist dein Bruder?«
    »Er hat mich allein gelassen.« Andrej fing an zu heulen.
    Er wusste nicht, wo sein Bruder steckte. Verstand nicht, was passiert war. Konnte es nicht erklären. Er wusste, seine Mutter würde ihn verabscheuen. Er wusste, sie würde ihm die Schuld geben, obwohl er alles richtig gemacht hatte. Schließlich war es sein Bruder, der ihn im Stich gelassen hatte.
    Oksana rang nach Luft. Sie schob Andrej beiseite, eilte aus dem Haus und spähte in den Wald. Von Pavel keine Spur. Vielleicht war er gestürzt und hatte sich verletzt. Vielleicht brauchte er Hilfe. Sie lief wieder hinein. Sie musste unbedingt wissen, was los war. Da sah sie Andrej mit einem Holzlöffel im Mund neben dem Borschtsch stehen. Auf frischer Tat ertappt, glotzte er seine Mutter einfältig an, wobei ihm ein Rinnsal Suppe aus dem Mund lief. Oksana war außer sich vor Wut, auf ihren toten Mann, auf ihren verschwundenen Sohn – sie sprang vor, warf Andrej zu Boden und stieß ihm den Holzlöffel in den Rachen. »Wenn ich den Löffel raushole, dann sagst du mir, was passiert ist, verstanden?«
    Kaum aber hatte sie den Löffel wieder herausgezogen, konnte er nur noch husten. Wutentbrannt trieb sie ihm den Löffel wieder in den Rachen. »Du nutzloser, dämlicher Tölpel. Wo ist mein Sohn? Wo ist er?«
    Sie zog den Löffel wieder heraus, aber er plärrte nur und würgte und brachte nichts heraus. Flennte nur weiter und hustete. Da schlug sie auf ihn ein, trommelte ihm mit den Händen gegen den schmalen Brustkorb.
    Erst als der Borschtsch überzukochen drohte, ließ sie von ihm ab, sprang auf und schob die Suppe vom Feuer.
    Andrej lag am Boden und wimmerte. Als Oksana ihn so daliegen sah, verrauchte ihr Zorn. Er war doch noch so klein. Und er hatte seinen Bruder so lieb. Oksana beugte sich zu ihm hinab, hob ihn auf und setzte ihn auf einen Stuhl. Sie legte ihm ihre Decke um und goss ihm eine Schale Suppe ein, eine ordentliche Portion, mehr, als er je zuvor bekommen hatte. Sie versuchte ihn zu füttern, aber er machte den Mund nicht auf. Er schmollte. Also reichte sie ihm den Löffel. Er hörte auf zu weinen und begann zu essen, verschlang den ganzen Borschtsch. Sie machte die Schale wieder voll und ermahnte ihn, langsam zu essen. Er ignorierte sie und vertilgte auch noch die zweite Schale. Ganz leise fragte sie ihn, was passiert sei, und hörte ihm zu, wie er von dem Blut im Schnee erzählte, von den herumliegenden Ästen, dem Verschwinden von Pavel und den tiefen Stiefelabdrücken.
    Oksana schloss die Augen. »Dein Bruder ist tot. Jemand hat ihn geraubt, damit er ihn aufessen kann. Verstehst du das? Genauso, wie ihr die Katze gejagt habt, hat jemand anderes euch gejagt. Verstehst du das?«
    Andrej glotzte stumm die Tränen seiner Mutter an. Ehrlich gesagt verstand er gar nichts. Er sah ihr hinterher, wie sie aufstand und nach draußen ging. Als er ihre Stimme hörte, lief er zur Tür.
    Oksana kniete im Schnee und starrte den Mond an.
    »Bitte, Gott, gib mir meinen Sohn wieder.«
    Nur Gott konnte ihn ihr jetzt noch zurückbringen. Das war doch nicht zu viel verlangt. Hatte Gott ein so kurzes Gedächtnis? Sie hatte ihr Leben riskiert, um seine Glocke zu retten, und alles, was sie dafür wollte, war ihr Sohn, der einzige Sinn in ihrem Leben.
    Ein paar Nachbarn ließen sich an den Türen blicken. Sie stierten Oksana an und hörten ihr Wehklagen. Aber an solchen Kummer war man hier gewöhnt, und lange gafften die Nachbarn nicht.

Zwanzig Jahre danach

Moskau
11. Februar 1953
    Der Schneeball klatschte Jora gegen den Hinterkopf.
    Der Schnee flog ihm nur so um die Ohren. Irgendwo hinter sich konnte er seinen kleinen Bruder lachen hören. Lauthals. Stolz auf sich, stolz auf seinen Wurf, auch wenn er nur Dusel gehabt hatte, ein Zufallstreffer.
    Jora wischte sich den Schnee aus dem Kragen seiner Jacke, aber ein paar Brocken waren ihm schon den Rücken hinuntergekrochen. Während sie an seiner Haut hinabglitten, schmolzen sie und verwandelten sich in dünne Rinnsale eiskalten Wassers. Jora zog sich das Hemd aus der Hose, schob die Hand so weit er konnte nach oben und angelte nach dem Eis.
    Arkadi konnte es nicht fassen, dass sein Bruder da so selbstvergessen mit seinem Hemd beschäftigt war, anstatt auf seinen Gegner aufzupassen. Bedächtig ballte er neuen Schnee zusammen, eine Handvoll nach der anderen.

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