Kind 44
sein, weil er für seinen Traum hatte kämpfen müssen. Aber Alexander hatte schon alles gegeben, und es war nicht genug gewesen. Es würde kein nächstes Mal geben. Obwohl sein Vater ihn immer noch anspornte, war Alexander mit dem Herzen nicht mehr bei der Sache, und bald darauf auch sein Vater nicht mehr. Alexander hatte die Schule verlassen, sich Arbeit gesucht und es sich in einer bequemen Tretmühle gemütlich gemacht.
Bis er mit allem fertig war, war es acht Uhr. Er verließ den Fahrkartenschalter und schloss hinter sich ab. Weit hatte er es nicht, weil seine Eltern und er in einem Dachausbau über dem Bahnhof wohnten. Offiziell unterstand der Bahnhof seinem Vater, aber dem ging es nicht gut. Im Krankenhaus wussten sie nicht, was ihm fehlte, außer dass er übergewichtig war und zu viel trank. Seine Mutter war bei guter Gesundheit und, wenn man von der Sorge um den Vater absah, meistens gut gelaunt. Nicht ohne Grund, denn ihre Familie gehörte zu denen, die Glück gehabt hatten. Der Lohn bei der Staatlichen Eisenbahn war zwar bescheiden und ihr Blat, ihr Einfluss, nur gering. Der eigentliche Vorteil aber war die Unterbringung. Anstatt sich den Platz mit einer anderen Familie teilen zu müssen, bewohnten sie ganz allein eine Wohnung mit Toilette, fließend heißem Wasser und einer Isolation, die so neu war wie der Bahnhof selbst. Als Gegenleistung erwartete man von ihnen, dass sie 24 Stunden am Tag in Bereitschaft waren. Im Bahnhof konnte man eine Glocke läuten, die direkt bei ihnen in der Wohnung hing. Wenn ein Nachtzug oder ein Frühzug durchkam, mussten sie verfügbar sein. Aber das waren kleine Unannehmlichkeiten, die sie unter sich aufteilten und die allemal wettgemacht wurden von dem relativen Komfort, in dem sie lebten. Alexanders Schwester hatte einen Reinigungsmann geheiratet, der ebenso wie sie in der Auto-Fabrik arbeitete, und die beiden waren in eine neue Wohnung in einem guten Stadtbezirk gezogen. Sie erwarteten gerade ihr erstes Kind. Das bedeutete, dass sich Alexander mit seinen 22 Jahren um nichts sorgen musste. Eines Tages würde er der Stationsvorsteher sein, und dann gehörte die Wohnung ihm.
In seinem Schlafzimmer zog er sich die Uniform aus und Zivilkleidung an, dann setzte er sich mit seinen Eltern zu Tisch. Es gab Erbsensuppe und gebratene Kasha. Sein Vater aß eine kleine Portion Rinderleber.
Sie war zwar teuer und nur sehr schwer aufzutreiben, aber die Ärzte hatten sie empfohlen. Alexanders Vater war auf strikter Diät mit absolutem Alkoholverbot, weshalb es ihm seiner Meinung nach noch schlimmer ging. Während des Abendessens schwiegen sie. Der Vater schien sich unwohl zu fühlen, er nahm kaum etwas zu sich. Nachdem er die Teller gespült hatte, verabschiedete Alexander sich, er wollte ins Kino. Sein Vater hatte sich bereits hingelegt. Alexander gab ihm einen Gutenachtkuss und sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen, er werde selbst früh aufstehen und sich um den ersten Zug kümmern.
Es gab nur dieses eine Kino in Wualsk. Bis vor drei Jahren hatte es noch gar keins gegeben. Dann hatte man eine Kirche in einen Saal mit über 600 Sitzen umgebaut, wo all die älteren, staatlich geförderten Filme gezeigt wurden, die die Einwohner der Stadt bisher verpasst hatten. Filme wie Die Kämpfer, Schuldig ohne Schuld, Geheimnisse der Gegenspionage oder Das Treffen an der Elbe, einige der erfolgreichsten Streifen der letzten zehn Jahre, die Alexander alle schon mehrmals gesehen hatte. Seit das Kino aufgemacht hatte, war es schnell zum liebsten Zeitvertreib geworden.
Wegen des Laufens hatte er sich nie fürs Trinken interessiert, und besonders gesellig war er auch nicht. Als er jetzt im Foyer ankam, sah er, dass Netsabjaemi God gezeigt wurde. Aber Alexander hatte den Streifen erst vor ein paar Abenden und davor schon viele Male gesehen. Er fand ihn faszinierend, nicht unbedingt wegen des Films selbst, sondern weil ein Schauspieler Stalin mimte. Alexander fragte sich, ob man wohl Stalin bei der Besetzung der Rolle einbezogen hatte. Was das wohl für ein Gefühl war, wenn man einem anderen dabei zusah, wie er so tat, als sei er man selbst? Wenn man ihm sagte, was er richtig machte und was falsch?
Alexander ging am Foyer vorbei. Er stellte sich nicht in der Schlange an, sondern machte sich stattdessen zum Park auf.
In der Mitte des Siegesparks stand eine Statue mit drei bronzenen Soldaten, die die Fäuste in den Himmel gereckt und die Gewehre geschultert hatten. Offiziell war der Park
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