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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Am Ufer entlang verlief in beide Richtungen ein ausgetretener Pfad. Nadja wandte sich flussabwärts, aufs freie Land hinaus. Es war zwar nicht mehr sehr hell, aber sie kannte den Weg wie ihre Westentasche. Sie hatte einen guten Ortssinn und hatte sich, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie verlaufen, nicht ein einziges Mal. Sie überlegte, was für einen Beruf ein Mädchen mit gutem Orientierungsvermögen später einmal ergreifen konnte. Vielleicht würde sie Kampfpilotin werden. Lokführerin brachte nichts, denn die mussten ja gar nicht darüber nachdenken, wo sie hinfuhren, ein Zug konnte sich schließlich nicht verfahren. Ihr Vater hatte ihr Geschichten vom Krieg erzählt, wo es Kampfpilotinnen gegeben hatte. Das hörte sich toll an, so eine wollte sie auch werden. Sie wollte ihr Gesicht auf der Titelseite einer Zeitung sehen und den Lenin-Orden bekommen. Dann würde ihr Vater schon auf sie aufmerksam werden und stolz auf sie sein. Das würde ihn endlich von seiner blöden Katze ablenken.
    Sie war eine Weile vor sich hinsummend gelaufen, froh, weg vom dem Haus und der Katze zu sein, da blieb sie plötzlich stehen. Vor sich konnte sie die Umrisse eines Mannes erkennen, der auf sie zukam. Er war groß, aber sonst konnte sie im Dämmerlicht nicht viel erkennen. Er hatte irgendeinen Koffer dabei. Normalerweise hätte der Anblick eines Fremden ihr überhaupt nichts ausgemacht. Warum denn auch? Aber vor kurzem hatte ihre Mutter etwas Seltsames gemacht: Sie hatte sich mit Nadja und ihrer Schwester hingesetzt und sie ermahnt, nicht mit Fremden zu sprechen. Sie war sogar so weit gegangen zu sagen, dass es besser war, unhöflich zu sein, als zu tun, was ein Fremder einem sagte. Nadja blickte sich zum Haus um. So weit weg war sie eigentlich gar nicht. Wenn sie jetzt loslief, konnte sie in weniger als zehn Minuten zurück sein.
    Bloß wollte sie unbedingt noch zu ihrem Lieblingsbaum, der noch ein Stück weiter flussabwärts stand.
    Auf den kletterte sie gern, setzte sich hinein und träumte. Solange sie das nicht gemacht hatte, solange sie nicht den Baum erreicht hatte, war ihr Spaziergang in ihren Augen kein Erfolg gewesen. Sie stellte sich vor, dass das ihre militärische Mission war: Wenn sie bis zum Baum kam, war sie erfüllt. Ganz spontan beschloss sie, dass sie nicht mit dem Mann reden würde.
    Sie würde einfach an ihm vorbeigehen, und wenn er sie ansprach, würde sie einfach »Guten Abend« sagen, aber nicht stehen bleiben.
    Sie ging weiter den Pfad entlang, und der Mann kam immer näher. Wurde er etwa schneller? Es schien so.
    Um sein Gesicht zu erkennen, war es zu dunkel. Er hatte einen Hut auf. Nadja wich zum Rand des Pfades aus, sodass er genügend Platz hatte vorbeizukommen. Jetzt trennten sie nur noch ein paar Meter. Nadja hatte plötzlich Angst und ein unerklärliches Verlangen, an ihm vorbeizuhuschen. Sie verstand selbst nicht, warum. Daran war nur ihre Mutter schuld. Bomberpilotinnen hatten keine Angst. Nadja fing an zu laufen, und weil sie sich Gedanken darüber machte, dass sie den Herrn damit beleidigte, rief sie: »Guten Abend.«
    Mit seinem freien Arm fasste Andrej sie um die Taille und hob den schmächtigen Körper hoch, sodass ihr Gesicht direkt vor seinem war. Er starrte sie an. Sie war zu Tode erschrocken, ihr stockte der Atem und ihr ganzer Körper war starr vor Angst.
    Und dann fing Nadja an zu lachen. Als sie sich von dem Schrecken erholt hatte, legte sie ihrem Vater die Arme um den Hals und umarmte ihn. »Du hast mir vielleicht Angst gemacht.«
    »Warum bist du so spät noch draußen?«
    »Ich wollte ein bisschen spazieren gehen.«
    »Weiß deine Mutter, dass du hier draußen bist?«
    »Ja.«
    »Du lügst ja.«
    »Tue ich nicht. Warum kommst du aus dieser Richtung? Du kommst doch nie aus dieser Richtung. Wo bist du gewesen?«
    »Auf der Arbeit. Ich hatte in einem der Dörfer kurz vor der Stadt zu tun. Und die einzige Möglichkeit zurückzukommen war zu Fuß. Es hat nur ein paar Stunden gedauert.«
    »Da musst du aber müde sein.«
    »Bin ich auch.«
    »Kann ich deinen Koffer tragen?«
    »Aber ich trage dich doch schon, und selbst wenn du dann meinen Koffer trägst, wäre das Gewicht immer noch dasselbe.«
    »Ich könnte ja allein gehen und den Koffer tragen.«
    »Ich glaube, das schaffe ich noch.«
    »Ich bin froh, dass du zu Hause bist, Vater.«
    Er hielt immer noch seine Tochter im Arm und drückte die Tür deshalb mit der Unterseite seines Koffers auf.
    Er trat in die Küche. Seine

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