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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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gefragt.
    »Das ist schon in Ordnung, Galina. Sie haben also keinen Mann mit einem kleinen Kind gesehen. Fjodor hat erzählt, dass Sie einen Mann mit einer Werkzeugtasche gesehen haben. Stimmt das?«
    Sie nickte.
    »Können Sie uns den Mann beschreiben?«
    »Aber er hatte gar kein Kind dabei.«
    »Das haben wir verstanden. Er hatte kein Kind dabei, das haben Sie deutlich erklärt. Er hatte nur eine Werkzeugtasche. Aber wie sah er aus?«
    Galina dachte nach. Raisa hielt den Atem an. Sie spürte, dass die Frau kurz davor war umzuschwenken. Sie brauchten ja nichts Schriftliches. Sie brauchten keine unterschriebene Zeugenaussage. Es würde nicht länger als eine halbe Minute dauern.
    Plötzlich zerschnitt Fjodor die Stille. »Es ist doch wohl nichts dabei, wenn Sie uns sagen, wie ein Mann mit einer Werkzeugtasche aussah. Niemand kann in Schwierigkeiten kommen, nur weil er einen Eisenbahnarbeiter beschreibt.«
    Raisa starrte Fjodor an. Er hatte einen Fehler gemacht.
    Man konnte sehr wohl in Schwierigkeiten kommen, wenn man einen Eisenbahnarbeiter beschrieb. Man konnte noch für viel weniger in Schwierigkeiten kommen. Die sicherste Verhaltensweise war immer noch, wenn man sich raushielt.
    Galina schüttelte den Kopf und trat zurück. »Tut mir leid. Es war dunkel. Ich habe ihn nicht gesehen. Er hatte eine Tasche. Das ist alles, woran ich mich noch erinnern kann.«
    Fjodor legte seine Hand an die Tür.
    »Nein, Galina, bitte ...«
    Galina schüttelte den Kopf. »Gehen Sie!«
    »Bitte. Ich bitte Sie.«
    Wie ein verängstigtes, panisches Tier kreischte sie:
    »Gehen Sie!«
    Plötzlich war es still. Der Lärm der spielenden Kinder hatte aufgehört. Galinas Mann erschien. »Was ist hier los?«
    Im Flur öffneten sich Wohnungstüren, Leute starrten heraus, beobachteten, deuteten mit dem Finger und verschreckten Galina nur noch mehr. Raisa merkte, dass ihnen die Situation entglitt, dass sie kurz davor standen, ihre Augenzeugin zu verlieren. Sie trat vor und umarmte Galina, so als wolle sie sich verabschieden.
    »Wie sah er aus? Flüstern Sie es mir ins Ohr.«
    Galinas Mann versuchte sie auseinanderzureißen. »Das reicht.«
    Galina wand sich, aber Raisa ließ nicht los, umklammerte den Arm dieser Fremden und flehte sie noch einmal an: »Wie sah er aus?«
    Wange an Wange wartete Raisa, schloss die Augen und hoffte. Sie konnte Galinas Atem spüren. Aber Galina antwortete nicht.

Rostow am Don
Am selben Tag
    Die Katze hockte auf dem Fenstersims, ihr Schwanz zuckte hierhin und dorthin, und ihre grünen Augen folgten Nadja durch das Zimmer, so als wolle sie gleich zuschlagen, als sei Nadja nichts weiter als eine übergroße Ratte. Die Katze war älter als sie. Nadja selbst war sechs Jahre alt, die Katze acht oder neun. Vielleicht erklärte das ein wenig, warum sie Nadja so von oben herab behandelte. Ihr Vater behauptete, hier in der Gegend gebe es ein Rattenproblem und deshalb müsse man unbedingt Katzen halten. Na schön, zum Teil stimmte das. Nadja hatte schon viele Ratten gesehen, große und auch dreiste. Aber sie hatte noch nie gesehen, dass diese Katze je etwas dagegen unternommen hätte. Sie war ein faules und von ihrem Vater vollkommen verzogenes Biest. Wie konnte eine Katze glauben, sie sei wichtiger als Nadja? Nie ließ sie sich von ihr anfassen. Als Nadja einmal zufällig vorbeigekommen war, hatte sie ihr über den Rücken gestreichelt, worauf die Katze einen Buckel gemacht und gefaucht hatte, um dann wie der Blitz in die Zimmerecke zu springen und das Fell zu sträuben, so als sei das ein Verbrechen.
    Danach hatte Nadja nicht mehr weiter versucht, sich mit ihr anzufreunden. Wenn die Katze sie unbedingt hassen wollte, würde Nadja sie eben doppelt hassen.
    Sie hielt es im Haus nicht mehr aus, wo die Katze sie die ganze Zeit anstarrte. Obwohl es schon spät war und der Rest der Familie in der Küche saß und das Uzin vorbereitete, ging sie nach draußen. Sie wusste, dass man ihr nicht erlauben würde, noch einen Spaziergang zu machen, also fragte sie erst gar nicht, sondern zog nur ihre Schuhe an und schlich sich aus der Vordertür.
    Nadja wohnte mit ihrer jüngeren Schwester, ihrer Mutter und ihrem Vater am Ufer des Don, in einem Viertel am Stadtrand mit kaputten Straßen und Backsteinhäuschen. Ein Stück weiter stromaufwärts wurden die Abwässer der Stadt und der Fabriken in den Fluss geleitet, und manchmal saß Nadja da und schaute zu, wie auf der Wasseroberfläche die Ölfilme, Fäkalien und Chemikalien vorbeischwammen.

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