Kind 44
aber je mehr sie daran herumgebastelt hatten, desto klarer war ihnen geworden, wie schlecht sie waren. Die Kleckse auf dem Papier, die Stellen, wo die Tinte verlaufen war, die doppelten Linien, wo sie den Stempel zweimal aufgedrückt hatten. Jetzt fragte er sich, wie er sich überhaupt auf solche Papiere hatte verlassen können, und ihm wurde klar, dass er das gar nicht getan hatte. Er war einfach davon ausgegangen, dass sie nicht angehalten würden.
Raisa beobachtete, wie der Agent sich in das Dokument vertiefte, und merkte, dass er kaum lesen konnte.
Er versuchte es zu vertuschen, indem er so tat, als sei er ganz besonders gründlich, aber sie hatte zu viele Kinder mit demselben Problem kämpfen sehen, um die Anzeichen nicht zu erkennen. Während er mit den Augen über die Zeilen fuhr, bewegten sich die Lippen des Mannes. Raisa kannte das. Wenn sie zu erkennen gab, dass sie von seiner Schwäche wusste, würde er mit Sicherheit seiner Wut freien Lauf lassen, also setzte sie weiterhin einen ängstlichen Blick auf. Wahrscheinlich gefiel es ihm, dass man ihn fürchtete, das linderte alle Unsicherheit, die er vielleicht verspürte. Prompt überprüfte er auch schon ihren Gesichtsausdruck, und nicht, weil er wegen der Papiere Verdacht geschöpft hatte, sondern weil er argwöhnte, dass sie nicht mehr genug Respekt vor ihm hatten. Als er befriedigt merkte, dass er immer noch ein Mann zum Fürchten war, schlug er die Dokumente gegen seine Handfläche und machte ihnen so klar, dass er sie abschätzte, dass er immer noch Macht über ihr Leben besaß. »Ich will Ihre Taschen sehen.«
Leo und Raisa öffneten ihr kleines Gepäck. Sie hatten nichts weiter bei sich als Wäsche zum Wechseln und ein paar unerlässliche Utensilien. Der Beamte verlor das Interesse. Er zuckte die Achseln. Als Antwort nickten sie ihm ehrerbietig zu und strebten betont langsam dem Ausgang zu.
Am selben Tag
Leo hatte Fjodors eigene Untersuchung über den Mord an seinem Sohn unterdrückt, hatte ihn beschwatzt und drangsaliert, nur damit er Ruhe gab. Und jetzt würde er ihn in genau dieser Angelegenheit um Hilfe bitten.
Er brauchte Fjodor, damit der ihn zu Galina Schaporinas Wohnung führte, weil er es nicht geschafft hatte, die Adresse anderweitig herauszufinden. Möglicherweise hatte er den Namen auch nicht richtig behalten. Damals hatte er ihm nicht viel Bedeutung beigemessen, und seitdem war so viel passiert. Ohne Fjodors Hilfe würde es schwierig sein, diese Zeugin zu finden. Leo machte sich auf Erniedrigung gefasst, auch auf Gesichtsverlust. Er wappnete sich gegen Hohn und Verachtung, nur um die Aussage dieser Augenzeugin zu bekommen. Fjodor war zwar MGB-Agent, aber Leo vertraute darauf, dass seine oberste Treue dem Gedenken seines Sohnes galt. Ganz gleich, wie viel Hass Fjodor ihm gegenüber empfinden mochte, Leo war sicher, dass seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit sie zusammenschweißen würde. Oder vielleicht doch nicht?
Trotzdem, damals, vor vier Monaten, hatte Leo die Situation richtig eingeschätzt. Unerwünschte Ermittlungen über den Tod seines Sohnes würden die ganze Familie in Gefahr bringen. Vielleicht hatte Fjodor diese Einschätzung akzeptiert. Und würde lieber die Lebenden schützen. Lieber Leo an den Staat verpfeifen. So riskierte er nichts und konnte trotzdem Rache nehmen.
Wofür würde er sich entscheiden? Leo würde an seine Tür klopfen und es herausfinden müssen.
Wohnblock Nr. 18, 4. Stock. Eine ältere Frau öffnete ihnen. Dieselbe, die ihm damals die Stirn geboten und es gewagt hatte, den Mord beim Namen zu nennen.
»Ich heiße Leo, und das ist meine Frau Raisa.«
Die Alte starrte Leo an. Sie erinnerte sich an ihn. Sie verabscheute ihn. Raisa bedachte sie mit einem Seitenblick. »Was wollen Sie?«
Raisa antwortete mit leiser Stimme: »Wir sind wegen des Mordes an Arkadi hier.«
Es herrschte längeres Schweigen, während die Frau ihre Gesichter studierte, dann antwortete sie: »Sie haben die falsche Adresse. Hier ist kein Junge ermordet worden.«
Sie war schon dabei, die Tür zu schließen, als Leo einen Fuß hineinstellte. »Sie hatten recht.«
Leo hatte Wut erwartet. Stattdessen aber fing die alte Frau an zu weinen.
***
Fjodor, seine Frau und die Alte, die Fjodors Mutter war, standen beieinander. Eine zivile Troika, ein Volkstribunal. Sie sahen zu, wie Leo seine Jacke auszog und sie über einen Stuhl legte. Wie er dann seinen Pullover abstreifte und anfing, sein Hemd aufzuknöpfen. Darunter, mit Klebeband an
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