Kind 44
bemerkte er Leo. Von einem Moment auf den anderen gefror sein Lächeln. Plötzlich verunsichert, ließ er Raisa los und suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen eines möglichen Verrats. Sie spürte sein Unbehagen: »Wir müssen dir eine Menge erklären.«
»Warum seid ihr hier?«
»Es wäre besser, wenn wir drinnen weiter sprechen.«
Iwan schien nicht überzeugt zu sein. Raisa legte ihm die Hand auf den Arm. »Bitte vertrau mir.«
Die Wohnung war klein, gut möbliert, und hatte Parkett. Es gab viele Bücher. Auf den ersten Blick schienen es allesamt erlaubte Texte zu sein: Gorki, politische Traktate, Marx. Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen, und im Wohnzimmer stand kein Bett. Leo fragte: »Sind wir allein?«
»Meine Kinder sind bei meinen Eltern. Meine Frau ist im Krankenhaus. Sie hat Tuberkulose.«
Raisa legte ihm wieder die Hand auf den Arm. »Iwan, das tut mir leid.«
»Wir dachten, du wärst verhaftet worden. Ich habe schon das Schlimmste befürchtet.«
»Wir hatten Glück. Wir sind in eine Stadt westlich des Urals umgesiedelt worden. Leo hat sich geweigert, mich zu denunzieren.«
Iwan konnte seine Überraschung nicht verbergen, so als sei das eine unerhörte Tatsache. Leo schwieg verletzt, während Iwan ihn abschätzig musterte. »Warum haben Sie sich geweigert?«
»Weil sie keine Spionin ist.«
»Seit wann spielt denn die Wahrheit eine Rolle?«
Raisa unterbrach die beiden. »Dieses Thema müssen wir jetzt wirklich nicht auswalzen.«
»Aber es ist wichtig. Sind Sie immer noch beim MGB?«
»Nein, ich bin degradiert und zur Miliz versetzt worden.«
»Degradiert? Da sind Sie aber noch mit einem blauen Auge davongekommen, was?« Es klang weniger wie eine Frage als wie ein Vorwurf.
»Es ist nur eine Gnadenfrist. Degradierung, Exil – eine Strafverlängerung im Verborgenen.«
Raisa wollte Iwan beruhigen. »Man ist uns nicht hierher gefolgt.«
»Ihr seid den ganzen Weg bis nach Moskau gekommen? Warum?«
»Wir brauchen Hilfe.«
Das überraschte ihn. »Womit könnte ich euch schon helfen?« Leo zog seinen Mantel, seinen Pullover und sein Hemd aus und holte die Papiere hervor, die er sich an den Körper geklebt hatte. Er fasste den Fall zusammen und reichte Iwan das Material. Iwan nahm es zwar, schaute es sich aber nicht an, sondern setzte sich auf einen Stuhl und legte die Dokumente auf dem Tisch neben sich ab. Einen Moment später stand er wieder auf, holte seine Pfeife und stopfte sie bedächtig. »Ich gehe davon aus, dass die Miliz diese Morde nicht untersucht.«
»Diese ganzen Morde sind entweder falsch aufgeklärt, vertuscht oder auf irgendwelche Geisteskranken, politische Gegner, Betrunkene und Herumtreiber geschoben worden. Sie sind nie miteinander in Verbindung gebracht worden.«
»Und ihr beide arbeitet jetzt also zusammen.«
Raisa wurde rot. »Ja, wir arbeiten zusammen.«
»Vertraust du ihm?«
»Ja, ich vertraue ihm.«
Leo blieb nichts anderes übrig, als zu schweigen, während Iwan seine Frau ausfragte und in seiner Anwesenheit die Intaktheit ihrer Beziehung hinterfragte.
»Und ihr zwei wollt diesen Fall zusammen lösen?«
Leo antwortete: »Wenn der Staat es nicht tut, dann muss es eben das Volk tun.«
»Sie hören sich ja an wie ein echter Revolutionär, Leo.
Allerdings haben Sie Ihr ganzes Leben lang für dieses Land gemordet, im Krieg ebenso wie im Frieden, ob es nun Deutsche waren oder Russen oder wen immer der Staat sonst zu hassen beschließt. Und jetzt soll ich plötzlich annehmen, dass Sie sich gegen die offizielle Linie auflehnen und anfangen, für sich selbst zu denken? Das glaube ich Ihnen nicht. Das halte ich für eine Falle. Tut mir leid, Raisa. Ich glaube, er will sich wieder beim MGB einschmeicheln. Er hat dich hereingelegt, und nun will er mich ihnen ausliefern.«
»Das stimmt nicht, Iwan. Schau dir die Beweise an. Die sind echt, nicht irgendein Trick.«
»Papier ist geduldig, daran glaube ich schon lange nicht mehr. Und du solltest es auch nicht tun.«
»Ich habe selbst eine der Leichen gesehen, einen kleinen Jungen. Man hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt und den Mund mit Rinde vollgestopft. Ich habe es selbst gesehen, Iwan. Mit meinen eigenen Augen. Irgendjemand hat das diesem Kind angetan. Er hat es genossen, und er wird nicht aufhören. Und er wird auch nicht von der Miliz gefasst werden. Ich weiß, du hast allen Grund, uns gegenüber misstrauisch zu sein.
Aber ich kann es dir nicht beweisen. Wenn du mir nicht vertrauen kannst, dann tut es mir leid,
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