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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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dass ich gekommen bin.«
    Leo wollte die Papiere schon wieder einsammeln, aber Iwan legte seine Hand darauf. »Ich sehe sie mir mal an.
    Ziehen Sie die Vorhänge zu. Und setzt euch beide hin, ihr macht mich nervös.«
    Als das Zimmer von der Außenwelt abgeschottet war, setzten sich Leo und Raisa zu Iwan und erzählten ihm die Einzelheiten des Falles, alles, was sie für wichtig hielten. Leo fasste seine eigenen Schlüsse zusammen.
    »Er überredet die Kinder, mit ihm zu kommen. Die Fußspuren im Schnee verliefen nebeneinander her, der Junge war also damit einverstanden, in den Wald zu gehen. Das Verbrechen selbst mag einem verrückt erscheinen, aber ein erkennbar Verrückter würde herumstreifen und wirres Zeug reden. Ein erkennbar Verrückter würde diese Kinder verscheuchen.«
    »Ja, da stimme ich Ihnen zu.«
    »Da es ohne einen offiziellen Auftrag sehr schwierig ist, sich in diesem Land zu bewegen, muss er einen Beruf haben, in dem er viel reist. Er muss die entsprechenden Papiere haben, Reisedokumente. Er muss voll in unsere Gesellschaft integriert sein, ein zuverlässiger, ehrbarer Bürger. Die Frage, die wir nicht beantworten können, ist ...«
    »Warum er es macht?«
    »Wie sollen wir ihn fassen, wenn wir das Warum nicht verstehen? Ich habe kein Bild von ihm. Was für ein Mensch ist er? Ist er jung oder alt? Reich oder arm?
    Wir haben einfach keine Ahnung, nach was für einem Mann wir suchen müssen – außer dass er Arbeit hat und auf den ersten Blick normal zu wirken scheint.
    Aber das trifft ja auf fast jeden zu.«
    Iwan rauchte seine Pfeife und dachte über Leos Worte nach. Dann sagte er: »Ich fürchte, ich kann euch nicht helfen.«
    Raisa lehnte sich vor. »Aber du hast doch bestimmt Artikel aus dem Westen über solche Verbrechen. Über Morde, die kein konventionelles Motiv haben.«
    »Und was wollt ihr daraus entnehmen? Vielleicht würde man tatsächlich ein paar Artikel zusammenbekommen, aber die würden nicht ausreichen, damit ihr euch ein Bild von diesem Mann machen könnt. Man kann diesen Mann nicht nur mit ein paar sensationslüsternen Beiträgen aus dem Westen sichtbar machen.«
    Leo lehnte sich zurück. Diese Reise war verschwendete Zeit gewesen. Aber noch mehr sorgte ihn die Frage, ob sie beide sich nicht eine unmögliche Aufgabe gestellt hatten. Um sich an die Lösung eines solchen Verbrechens zu machen, waren sie sowohl materiell als auch von ihrem Wissensstand her viel zu schlecht gerüstet.
    Iwan zog an seiner Pfeife und beobachtete ihre Reaktionen. »Allerdings kenne ich einen Mann, der euch vielleicht helfen könnte. Professor Zauzayez, ein ehemaliger Psychiater und Verhörspezialist des MGB. Er hat sein Augenlicht verloren. Vielleicht hat die Erblindung bei ihm einen Wandel herbeigeführt, eine Erleuchtung, ganz so wie bei Ihnen, Leo. Mittlerweile ist er ziemlich aktiv in Untergrundkreisen. Sie könnten ihm erzählen, was Sie gerade mir erzählt haben. Vielleicht kann er helfen.«
    »Kann man ihm vertrauen?«
    »So sehr, wie man heutzutage überhaupt jemandem trauen kann.«
    »Was genau könnte er tun?«
    »Ihr könnt ihm eure Unterlagen vorlesen und die Fotos beschreiben. Vielleicht kann er euch eine klarere Vorstellung von einem Menschen vermitteln, der so etwas machen würde. Sein Alter, seine Verhältnisse, solche Sachen.«
    »Wo wohnt er?«
    »Er wird sich nicht darauf einlassen, dass ihr ihn in seiner Wohnung aufsucht. Er ist sehr vorsichtig. Wenn überhaupt, dann kommt er hierher. Ich werde mein Bestes tun, ihn zu überzeugen, aber versprechen kann ich nichts.«
    Raisa lächelte. »Danke.«
    Leo freute sich. Ein Experte war mit Sicherheit besser als irgendwelche Zeitschriftenartikel.
    Das Telefon. Dieser Mann hatte ein Telefon! In seiner Wohnung, seiner netten, gut möblierten Wohnung.
    Leo sah sich die Einrichtung des Zimmers genauer an.
    Hier stimmte etwas nicht. Das war keine Wohnung, in der eine Familie wohnte. Warum lebte der Mann in so vergleichsweise luxuriösen Verhältnissen? Und wie hatte er es geschafft, seiner Verhaftung zu entgehen?
    Nach Raisas und Leos Verbannung hätte man ihn doch eigentlich abholen müssen. Schließlich gab es eine MGB-Akte über ihn. Wassili hatte Leo selbst die Fotos gezeigt. Wie war er der Obrigkeit entkommen?
    Iwan hatte ein Gespräch angemeldet, jetzt sprach er in den Hörer:
    »Professor Zauzayez, hier ist Iwan Sukow. Ich habe eine interessante Aufgabe, für die ich Ihre Hilfe brauche. Am Telefon kann ich nicht darüber sprechen. Hätten

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