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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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sich. Sie hatte Iwan vertraut. Ihre Meinung über ihn hatte sich nur auf seine Fußangeln gegründet, seine Bücher und Artikel, seine Gedanken über westliche Kultur und seine angeblichen Pläne, wichtigen Dissidentenautoren dabei zu helfen, ihre Werke in den Westen zu schmuggeln. Nichts als Lügen. Wie vielen Schriftstellern und Regimegegnern mochte er wohl ein Bein gestellt haben? Wie viele Manuskripte hatte er verbrannt, so dass sie jetzt für die Welt verloren waren? Wie viele Künstler und Freidenker hatte er den Tschekisten in die Arme getrieben? Sie war auf ihn hereingefallen, weil er so anders gewesen war als Leo. Aber dieses Anderssein war nur Blendwerk gewesen. Der Dissident war in Wahrheit Polizist gewesen, und der Polizist war zum Konterrevolutionär geworden. Der Dissident hatte sie verraten, der Polizist hatte sie gerettet. Sie konnte sich doch unmöglich von Leos Eltern verabschieden, Seite an Seite mit ihrem Mann, so als sei sie ihm eine loyale und liebende Ehefrau gewesen.
    Leo nahm sie bei der Hand: »Ich würde mich freuen, wenn du mitkämst.«
    Die Haustür war unverschlossen. Drinnen war die Luft so heiß und stickig, dass ihnen sofort der Schweiß ausbrach und ihnen die Kleider am Leib klebten. Die Wohnung Nr. 27 im ersten Stock war verschlossen, aber Leo war schließlich schon in viele Wohnungen eingebrochen. Einen Moment hielt er inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn, atmete tief durch und schloss die Augen. Er trocknete sich die Hände an der Hose ab und achtete nicht auf die Mücken, sollten sie sich doch an ihm satt trinken. Er machte die Augen wieder auf.
    Konzentrier dich. Zwei Handgriffe und das Schloss schnappte auf.
    Nur durch das Fenster fiel ein fahler Lichtschein. Der Raum stank nach schlafenden Leibern. Leo und Raisa blieben an der Tür stehen, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie machten die Umrisse dreier Betten aus. In zweien lag je ein Paar Erwachsener, in einem dritten schienen drei Kinder zu schlafen. In der Küchenecke lagen zwei Kleinkinder auf Flickenteppichen wie Hunde unter einem Tisch. Leo näherte sich den schlafenden Erwachsenen. Seine Eltern waren nicht dabei. Hatte man ihm eine falsche Adresse gegeben?
    Solche Pannen waren an der Tagesordnung. Vielleicht hatte man ihn sogar absichtlich ins falsche Haus geschickt.
    Er machte die Umrisse einer weiteren Tür aus und ging auf Zehenspitzen darauf zu, während unter jedem Schritt die Dielen ächzten. Raisa folgte ihm auf dem Fuß, ihr Gang war erheblich leichter. Das Paar im nächststehenden Bett bewegte sich. Leo blieb stehen und wartete, bis sie wieder still lagen. Sie waren nicht aufgewacht. Die beiden schlichen weiter. Er streckte den Arm aus und legte die Hand auf den Türgriff.
    Es war ein fensterloser, stockfinsterer Raum. Leo musste die Tür offen lassen, um überhaupt etwas sehen zu können. Er erkannte zwei Betten, zwischen denen kaum eine Lücke war. Nicht einmal ein Laken trennte sie. In einem lagen zwei Kinder, in dem anderen zwei Erwachsene. Leo trat näher heran. Es waren seine Eltern. Sie lagen eng aneinander in einem schmalen Einzelbett. Leo richtete sich auf, kehrte zu Raisa zurück und flüsterte: »Schließ die Tür.«
    Jetzt musste er sich in völliger Finsternis bewegen. Er tastete sich am Bett entlang und kauerte sich schließlich neben seinen Eltern auf den Boden. Er hörte, wie sie schliefen. Zum Glück war es dunkel. Er weinte. Die Kammer, in die man sie hineingezwungen hatte, war kleiner als das Bad ihrer vorherigen Wohnung. Sie hatten kein bisschen Platz für sich selbst und keine Möglichkeit, sich von dieser Familie abzusondern. Man hatte sie hierherschickt, damit sie so starben, wie auch ihr Sohn abtreten sollte: gedemütigt.
    In ein und demselben Moment legte er beiden eine Hand auf den Mund. Er spürte, wie sie wach wurden, zusammenzuckten und wie ihre Körper erstarrten. Damit sie nicht schrien, flüsterte er: »Ich bin es, Leo. Keinen Laut.«
    Die beiden Alten entspannten sich etwas. Er nahm seine Hände weg und hörte, wie sie sich aufsetzten, fühlte die Hand seiner Mutter auf seinem Gesicht. In der Dunkelheit tastete sie blind nach ihm. Als sie seine Tränen fühlte, blieben ihre Finger darauf ruhen. Er konnte ihre Stimme hören, kaum ein Flüstern. »Leo ...«
    Auch die Hand seines Vaters hatte ihn gefunden. Leo drückte sie fest an sein Gesicht. Er hatte geschworen, sich um sie zu kümmern, und er hatte versagt. Mühsam brachte er heraus: »Es tut mir

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