Kind 44
gekommen, um mit euch zu sprechen, diese Dinge zu klären, die unnötig verkompliziert worden sind. Wenn ihr wollt, kann ich euch den gesamten Bericht laut vorlesen.«
Die Alte meldete sich wieder zu Wort. »Dieser Bericht ist eine Lüge.«
Alle zuckten zusammen. Leo gab keine Antwort und zwang sich dazu, die Ruhe zu bewahren. Diese Leute mussten kapieren, dass es hier keine Kompromisse gab. Sie mussten einlenken und einsehen, dass ihr kleiner Junge eines unglücklichen Todes gestorben war. Er wollte ihnen doch nur helfen. In Erwartung, dass er der Frau widersprechen würde, wandte sich Leo an Fjodor.
Fjodor machte einen Schritt auf ihn zu. »Leo, wir haben neue Hinweise. Hinweise, die erst heute ans Licht gekommen sind. Eine Frau, die in einer Wohnung wohnt, von der aus man auf die Gleise sehen kann, hat Arkadi mit einem Mann gesehen. Mehr wissen wir nicht. Sie ist keine Freundin von uns, und wir sind ihr noch nie begegnet. Aber sie hatte von dem Mord gehört ...«
»Fjodor!«
»Sie hatte von dem Tod meines Sohnes gehört. Und wenn es stimmt, was wir gehört haben, dann kann sie diesen Mann beschreiben. Sie wäre in der Lage, ihn wiederzuerkennen.«
»Wo ist diese Frau?«
»Wir warten schon die ganze Zeit auf sie.«
»Sie kommt hierher? Ich würde gern hören, was sie zu sagen hat.«
Man bot Leo einen Stuhl an, doch er wischte das Angebot mit einer Handbewegung beiseite. Er stand lieber.
Keiner sagte etwas, alle warteten nur auf das Klopfen an der Tür. Mittlerweile bedauerte Leo es, dass er das Angebot mit dem Stuhl nicht angenommen hatte. Es war schon fast eine Stunde vergangen, in der keiner einen Mucks von sich gegeben hatte. Endlich hörte man ein leises Klopfen an der Tür. Fjodor machte auf und führte die Frau herein. Sie mochte um die dreißig sein und hatte ein freundliches Gesicht, und als sie all die Leute sah, weiteten sich ihre Augen vor Nervosität.
Fjodor versuchte sie zu beruhigen. »Das sind nur Freunde und Familienangehörige. Sie brauchen keine Angst zu haben.«
Aber sie hörte gar nicht zu, sondern starrte nur Leo an.
»Ich heiße Leo Stepanowitsch. Ich bin Beamter des MGB. Ich bin für diese Angelegenheit hier zuständig.
Wie heißen Sie?« Leo zog seinen Notizblock hervor und schlug eine leere Seite auf.
Die Frau gab keine Antwort. Er warf ihr einen schiefen Blick zu, aber sie sagte immer noch nichts. Leo wollte schon seine Frage wiederholen, als sie endlich den Mund aufmachte. »Galina Schaporina.«
Ein flüsterndes Stimmchen.
»Und was haben Sie gesehen?«
»Ich habe gesehen ...« Sie blickte sich im Zimmer um, dann zu Boden und verfiel wieder in Schweigen.
Fjodor gab ihr ein Stichwort, seine Stimme klang angespannt. »Sie haben doch einen Mann gesehen, oder?«
»Ja, einen Mann.«
Fjodor stand direkt neben ihr und hatte sie mit seinem Blick durchbohrt, jetzt seufzte er vor Erleichterung.
Die Frau fuhr fort. »Na ja, ein Mann also. Vielleicht ein Arbeiter, er war auf den Schienen. Ich hab ihn durchs Fenster gesehen. Es war schon dunkel.«
Leo tippte mit dem Federhalter auf seinen Notizblock.
»Haben Sie einen kleinen Jungen bei ihm gesehen?«
»Nein, da war kein Junge.«
Fjodor fiel die Kinnlade herunter. Hastig sprach er auf die Frau ein: »Aber wir haben gehört, Sie hätten einen Mann gesehen, der meinen kleinen Jungen an der Hand hatte.«
»Nein, nein, da war kein Junge. Er hatte eine Tasche in der Hand, ich glaube, es war eine Werkzeugtasche. Ja, das muss es gewesen sein. Er hat auf den Schienen gearbeitet, hat vielleicht was repariert. Ich hab nicht viel mitgekriegt, nur einen flüchtigen Blick, mehr nicht. Ich weiß gar nicht, warum ich hier bin. Aber es tut mir sehr leid, dass Ihr Sohn tot ist.«
Leo klappte seinen Notizblock zu. »Ich danke Ihnen.«
»Wird es noch eine Befragung geben?«
Bevor Leo antworten konnte, umklammerte Fjodor den Arm der Frau.
»Aber Sie haben doch einen Mann gesehen!«
Die Frau entwand sich seinem Griff. Sie sah sich im Zimmer um, sah all die Blicke, die auf sie gerichtet waren. Dann wandte sie sich Leo zu. »Müssen Sie noch mal bei mir zu Hause vorbeikommen?«
»Nein, Sie können gehen.«
Die Frau eilte zur Wohnungstür und vermied dabei jeden Augenkontakt. Noch bevor sie dort angekommen war, rief die Alte ihr zu: »So schnell kriegst du es mit der Angst zu tun?«
Fjodor ging zu ihr hin. »Setz dich bitte.«
Weder entrüstet noch besänftigt antwortete sie: »Arkadi war dein Sohn.«
»Ich weiß.«
Leo konnte Fjodors
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