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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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begriffen sie plötzlich den Grund für sein plötzliches Auftauchen. Dass er von der Staatssicherheitspolizei, dem MGB, gesucht wurde, erwähnte er mit keinem Wort. Er musste es auch gar nicht, das war ihnen schon so klar. Er war ein Flüchtling. Sobald ihnen das bewusst wurde, war es mit dem freundlichen Empfang vorbei. Auf Beihilfe zur Flucht stand die Todesstrafe. Anatoli wusste das, aber er hatte gehofft, dass sein Freund das Risiko auf sich nehmen würde. Er hatte sogar gehofft, dass Michail ihn nach Norden begleiten würde. Nach zwei Leuten suchte der MGB nicht, und außerdem hatte Michail bis hoch nach Leningrad in jeder Stadt Bekannte, einschließlich Twer und Gorki. Es war natürlich viel verlangt, aber schließlich hatte Anatoli Michail einmal das Leben gerettet. Zwar hatte er nie das Gefühl gehabt, als stünde der andere damit in seiner Schuld, aber nur deshalb, weil es ihm nie in den Sinn gekommen war, diese Schuld eines Tages einfordern zu müssen.
    Im Verlauf ihrer Unterredung war schnell klar geworden, dass Michail nicht bereit war, ein derartiges Risiko auf sich zu nehmen. Besser gesagt, er wollte überhaupt kein Risiko auf sich nehmen. Des Öfteren hatte seine Frau das Gespräch unterbrochen, weil sie mit ihrem Mann unter vier Augen reden wollte. Und bei jeder Unterbrechung hatte sie Anatoli mit unverhohlenem Abscheu angefunkelt. Er sah ja ein, dass man unter den gegebenen Umständen stets wachsam und vorsichtig sein musste, und es war nicht zu leugnen, dass er die Familie seines Freundes in Gefahr brachte, eine Familie, die er liebte. Also schraubte er seine Erwartungen drastisch zurück und erklärte Michail, er wolle lediglich eine Nacht in ihrer Scheune schlafen. Morgen früh wäre er verschwunden. Er würde sich querfeldein zum nächsten Bahnhof durchschlagen, demselben, an dem er auch angekommen war. Außerdem hatte er vorgeschlagen, das Schloss der Scheune aufzubrechen. Falls er dann unerwarteterweise doch geschnappt wurde, konnten sie unwissend tun und behaupten, dass jemand eingedrungen sei. Er hatte gehofft, diese Vorkehrungen würden seine Gastgeber beruhigen.
    Anatoli konnte es nicht ertragen, seinen Freund weinen zu sehen. Er rückte näher heran. »Es gibt nichts, wofür du dich schuldig fühlen musst. Wir versuchen doch alle nur zu überleben.«
    Michail hörte auf zu weinen. Er wischte sich die Tränen ab und sah auf. Die beiden Freunde wussten, dass sie sich jetzt zum letzten Mal in ihrem Leben sahen, und sie umarmten sich.
    Michail löste sich aus der Umarmung. »Du bist ein besserer Mensch als ich.«
    Michail stand auf, verließ die Scheune und schloss sorgsam das Tor, indem er mit den Füßen etwas Schnee herbeischarrte, um sie festzukeilen. Dann wandte er sich vom Wind ab und trottete zum Haus. Hätte er Anatoli umgebracht und ihn als Eindringling angezeigt, dann hätte das die Sicherheit seiner Familie gewährleistet. Jetzt musste er auf sein Glück hoffen. Und beten. Er hatte sich nie für einen Feigling gehalten, und im Krieg, als es nur um sein eigenes Leben gegangen war, hatte er sich auch nie wie einer verhalten. Einige Männer hatten ihn sogar mutig genannt. Aber jetzt, mit einer Familie, war er ängstlich geworden. Er konnte sich nun Schlimmeres vorstellen als seinen eigenen Tod.
    Als er im Haus angekommen war, zog er Stiefel und Mantel aus und ging ins Schlafzimmer. Er öffnete die Tür und schrak zurück, am Fenster stand eine Gestalt.
    Seine Frau war wach und starrte hinaus. Als sie ihn hereinkommen hörte, drehte sie sich um. Ihr schmaler Körperbau verriet nicht, was sie alles heben und schleppen und umpflügen konnte, zwölf Stunden am Tag. Sie hielt die Familie zusammen. Es scherte sie nicht, dass Anatoli ihrem Mann einmal das Leben gerettet hatte. Ihre gemeinsame Vergangenheit, ihre Freundschaft oder irgendwelche Vorstellungen von Loyalität oder Dank waren ihr egal. Das war doch alles abstrakt. Anatoli war eine Bedrohung für ihre Sicherheit. Das war real. Sie wollte, dass er verschwand, so weit weg von ihrer Familie wie möglich. Gerade jetzt, in diesem Moment, hasste sie ihn, diesen guten, anständigen Freund, den sie einst so gemocht und mehr als jeden anderen als Gast geschätzt hatte.
    Michail küsste seine Frau. Ihre Wange war kalt. Er nahm ihre Hand. Sie musterte ihn und sah, dass er geweint hatte. »Was hast du da draußen gemacht?«
    Michail verstand ihre Unruhe. Sie hoffte, dass er das Unvermeidliche getan hatte. Sie hoffte, dass er die Familie an

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