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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Augen nicht sehen. Er fragte sich, was die beiden da im Geheimen miteinander ausmachten. Immerhin setzte sie sich hin. Galina Schaporina war währenddessen durch die Tür gehuscht.
    Leo war erleichtert, das Fjodor interveniert hatte. Er hoffte, dass die Sache nun eine Wende nahm. Wenn man ihnen erst ungeschminkt die Auswirkungen ihrer Theorie klarmachte – immerhin hatten sie die Miliz der Lüge bezichtigt –, dann würden sie davor zurückschrecken und die Wahrheit akzeptieren. Fjodor stellte sich wieder neben Leo. »Vergib ihr. Sie ist sehr aufgeregt.«
    »Deshalb bin ich doch da. Damit wir in diesen vier Wänden über die Sache reden können. Was nicht sein darf, ist, dass es noch weiter Gerede gibt, wenn ich diesen Raum verlassen habe. Wenn jemand euch fragt, was mit eurem Sohn geschehen ist, dürft ihr nicht behaupten, dass er ermordet wurde. Und nicht etwa, weil ich es euch befehle, sondern weil es nicht wahr ist.«
    »Wir verstehen.«
    »Fjodor, ich möchte, dass du dir morgen einen Tag frei nimmst. Das ist bereits genehmigt. Wenn es sonst noch etwas gibt, was ich für dich tun kann ...«
    »Nein, gar nichts.«
    An der Wohnungstür schüttelte Fjodor Leo die Hand.
    »Wir sind alle schrecklich erregt. Bitte vergib uns diese Gefühlsausbrüche.«
    »Wir lassen das unter den Tisch fallen. Aber wie gesagt, jetzt muss Schluss sein.«
    Fjodors Gesicht spannte sich an. Er nickte. Als ob ihm die Worte bitter aufstoßen würden, presste er sie heraus: »Der Tod meines Sohnes war ein schrecklicher Unfall.«
    Leo stieg die Treppen hinunter und atmete einmal tief durch. Die Atmosphäre da oben war zum Schneiden gewesen. Er war froh, dass er damit fertig und die Sache aus der Welt war. Fjodor war ein guter Mann.
    Zwar hegte er ganz offensichtlich noch seine Zweifel, aber das lag an der Trauer, die immer noch auf ihm lastete. Wenn er sich erst einmal mit dem Tod seines Sohnes abgefunden hatte, würde er auch die Wahrheit leichter hinnehmen können.
    Leo blieb stehen. Hinter sich hörte er ein Geräusch. Er wandte sich um. Da stand ein Junge, höchstens sechs oder sieben Jahre alt. »Verzeihen Sie bitte, Genosse.
    Ich bin Jora Andrejew, Arkadis älterer Bruder. Kann ich mit Ihnen reden?«
    »Natürlich.«
    »Es ist alles meine Schuld.«
    »Was ist deine Schuld?«
    »Dass mein Bruder tot ist. Ich habe einen Schneeball nach ihm geworfen. Da waren ganz viele Steine und Dreck und Sand drin. Arkadi hat sich verletzt, ich habe ihn am Kopf getroffen. Dann ist er weggerannt. Vielleicht ist ihm von dem Schneeball schwindlig geworden, vielleicht konnte er deshalb den Zug nicht sehen.
    Der Dreck, den sie in seinem Mund gefunden haben.
    Da bin ich dran schuld. Ich habe ihn damit beworfen.«
    »Der Tod deines Bruders war ein Unfall. Du brauchst gar kein schlechtes Gewissen zu haben. Aber es ist gut, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Jetzt geh wieder zu deinen Eltern.«
    »Das mit dem Schneeball voller Dreck und Schlamm und Steinen habe ich ihnen nicht erzählt.«
    »Vielleicht müssen sie das auch gar nicht erfahren.«
    »Die wären so wütend auf mich. Weil es das letzte Mal war, dass ich ihn gesehen habe. Meistens haben wir friedlich miteinander gespielt. Und wir hätten uns auch wieder vertragen und wären wieder Freunde gewesen.
    Ganz bestimmt. Aber jetzt kann ich es nicht mehr gutmachen und nicht sagen, dass es mir leid tut.«
    Leo hörte sich die Beichte des Kleinen an. Er wollte, dass man ihm verzieh. Der Junge hatte angefangen zu weinen. Verlegen tätschelte Leo ihm den Kopf und murmelte, so als sänge er ein Schlaflied: »Kei-ner konn-te was da-für.«

Das Dorf Kimow
160 Kilometer nördlich von Moskau
Am selben Tag
    Seit drei Tagen hatte Anatoli Brodsky nicht geschlafen.
    Er war so müde, dass selbst die einfachsten Verrichtungen ihm Konzentration abverlangten. Das Scheunentor vor ihm war verschlossen. Er wusste, er würde es aufbrechen müssen, aber trotzdem kam ihm der Gedanke weit hergeholt vor. Er hatte einfach nicht die Kraft. Es hatte angefangen zu schneien. Anatoli schaute in den nächtlichen Himmel. Seine Gedanken schweiften ab, und als er endlich wieder wusste, wo er war und was er zu tun hatte, sammelte sich schon der Schnee auf seinem Gesicht. Er leckte sich die Flocken von den Lippen, und ihm wurde klar, dass er, wenn er dort nicht hineinkam, sterben würde. Er nahm sich zusammen und trat gegen die Tür. Die Scharniere klapperten, aber das Tor blieb zu. Er trat noch einmal zu. Holz splitterte.
    Das Geräusch

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