Kind 44
erste Stelle gesetzt und den Mann umgebracht hatte. Es wäre das einzig Richtige. »Er hat das Scheunentor offen gelassen. Jeder hätte das sehen können.
Ich habe es zugemacht.«
Er spürte, wie der Griff seiner Frau erlahmte, spürte ihre Enttäuschung. Sie hielt ihn für einen Schwächling, und sie hatte recht. Er besaß weder die Kraft, seinen Freund umzubringen, noch die Kraft, ihm zu helfen. Er rang nach ein paar tröstenden Worten. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Niemand weiß, dass er hier ist.«
Moskau
Am selben Tag
Der Tisch war zertrümmert, das Bett auf den Kopf gestellt, die Matratze aufgeschlitzt, die Kissen waren zerpflückt und die Dielen herausgerissen, aber bislang hatte Anatoli Brodskys Wohnung nichts über seinen möglichen Verbleib preisgegeben. Leo Demidow kauerte sich hin und untersuchte den Kamin. Ganze Stapel Papier waren verbrannt worden, in dünnen Schichten lag die Asche da, wo Schriftstücke aufeinandergepackt und angezündet worden waren. Mit der Mündung seiner Waffe durchwühlte er sie in der Hoffnung, ein paar Fetzen zu finden, die das Feuer nicht zerstört hatte. Die Asche fiel in sich zusammen, alles war durch und durch verkohlt. Der Verräter war entkommen, und das war Leos Schuld. Er hatte bei diesem Mann, einem Fremden, den Grundsatz »Im Zweifel für den Angeklagten« angewandt. Nur Anfänger machten so einen Fehler.
BESSER, ZEHN UNSCHULDIGE LEIDEN, ALS EIN SPION ENTKOMMT.
Er hatte eine eiserne Grundregel ihrer Arbeit missachtet: dass man zunächst immer einmal von der Schuld des Betreffenden ausging. Leo übernahm zwar die Verantwortung, aber er fragte sich doch, ob Brodsky wohl auch entkommen wäre, wenn er selbst nicht den ganzen Tag damit vergeudet hätte, sich um den Unfalltod dieses kleinen Jungen zu kümmern. Sich mit den Verwandten zu treffen, hitzköpfige Gerüchte auszumerzen – so was war doch keine Aufgabe für einen hochrangigen MGB-Offizier. Anstatt höchstpersönlich eine Überwachungsoperation zu leiten, hatte er sich an einen Nebenkriegsschauplatz abschieben lassen, damit er etwas wieder hinbog, was doch eigentlich nur eine Privatangelegenheit war. Niemals hätte er sich darauf einlassen dürfen. Er hatte die Bedrohung, die von diesem Brodsky ausging, nicht ernst genug genommen – seine erste grobe Fehleinschätzung, seit er in die Staatssicherheit eingetreten war. Ihm war klar, dass man als Offizier kaum die Gelegenheit erhielt, sich einen weiteren Irrtum zu leisten.
Er hatte dem Fall keine große Bedeutung beigemessen.
Brodsky war zwar ein gebildeter Mann, beherrschte leidlich die englische Sprache und hatte regelmäßig mit Ausländern zu tun. Das war Grund genug für erhöhte Wachsamkeit, aber Leo hatte zu bedenken gegeben, dass der Mann immerhin ein angesehener Tierarzt war, in einer Stadt, in der es nur wenige ausgebildete Tierärzte gab. Zu irgendjemandem mussten die ausländischen Diplomaten ihre Katzen und Hunde ja bringen.
Außerdem hatte der Mann als Feldarzt in der Roten Armee gedient. Seine Biographie war einwandfrei. Die Militärakten besagten, dass er sich freiwillig gemeldet hatte. Und obwohl er eigentlich kein ausgebildeter Arzt war und sich eher mit verletzten Tieren auskannte, hatte er in mehreren Feldlazaretten gearbeitet und war zweimal belobigt worden. Es gab zwar keine genauen Zahlen, aber Leo schätzte, dass der Verdächtige Hunderten das Leben gerettet hatte.
Generalmajor Kuzmin hatte den Grund für das Zögern seines Schützlings schnell erraten. Leo hatte in seiner Zeit beim Militär selbst zahlreiche Verwundungen davongetragen, die die Feldärzte behandelt hatten, und irgendeine hehre Vorstellung von Kriegskameradschaft blockierte ihn ganz offensichtlich. Kuzmin erinnerte ihn daran, dass solche Gefühlsduseleien einen blind für die Wahrheit machen konnten. Denen, die einem am vertrauenswürdigsten vorkommen, muss man erst recht misstrauen. Leo erkannte die Anspielung auf Stalins berühmtes Sprichwort:
VERTRAUEN IST GUT, KONTROLLE IST BESSER.
Wenn man unter sich war, machten die Leute daraus:
KONTROLLIERE DIE, DENEN DU VERTRAUST.
Wenigstens korrespondierte die Tatsache, dass alle gleichermaßen unter die Lupe genommen wurden, ob man ihnen nun vertraute oder nicht, mit dem Prinzip, dass alle Menschen gleich waren.
Die Aufgabe eines Ermittlers war es, an der Unschuld zu kratzen, bis die Schuld offen gelegt war. Wenn man keine Schuld entdeckte, dann hatte man womöglich nicht lange genug gekratzt. Im Fall
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