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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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unter ihm. Er griff nach unten und fühlte die tote Katze. Erschöpft schloss Pavel die Augen.
    Die Hitze eines Feuers weckte ihn. Er war nicht mehr in dem Sack. Man hatte ihn auf den Lehmboden eines Bauernhauses gekippt. Stepan, jetzt ein junger Mann, der Mann aus dem Wald, ein hagerer, grimmiger Mann, saß neben dem Feuer und hielt die Leiche eines kleinen Jungen im Arm. Neben ihm war Anna, auch sie war wieder jung. Der Junge in Stepans Armen war teils Mensch, teils Geist, teils Skelett. Die Haut hing ihm von den hervortretenden Knochen, seine Augen waren riesig. Anna weinte. Sie streichelte dem toten Jungen das Haar, und schließlich flüsterte Stepan seinen Namen.
    »Leo.«
    Der tote Junge war Leo Stepanowitsch gewesen.
    Schließlich wandte sich Anna mit geröteten Augen zu ihm um und fragte: »Wie heißt du?«
    Er antwortete nicht. Sein Name fiel ihm nicht ein.
    »Wo wohnst du?«
    Auch das wusste er nicht.
    »Wie heißt dein Vater?«
    Keine Erinnerung.
    »Könntest du nach Hause zurückfinden?«
    Er wusste nicht, wo sein Zuhause war. Anna fuhr fort:
    »Verstehst du, warum du hier bist?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Du solltest sterben, damit er leben konnte. Verstehst du das?« Das tat er nicht.
    Sie sprach weiter. »Aber unser Sohn kann nicht mehr gerettet werden. Er ist gestorben, während mein Mann auf der Jagd war. Da er nun tot ist, kannst du gehen.«
    Aber wohin denn gehen? Er wusste nicht, wo er war.
    Er wusste nicht, wo er herkam. Er wusste überhaupt nichts über sich. Alle Erinnerung war ausgelöscht.
    Anna stand auf und ging zu ihm hin. Sie reichte ihm die Hand. Schwach und benommen rappelte er sich auf. Wie lange war er in dem Sack gewesen? Wie weit hatte man ihn getragen? Es kam ihm vor wie Tage.
    Wenn er nicht bald etwas aß, würde er sterben. Sie gab ihm eine Tasse warmes Wasser. Beim ersten Schluck wurde ihm übel, aber beim zweiten ging es schon.
    Dann nahm sie ihn mit nach draußen, und dort saßen sie in mehrere Decken eingehüllt beieinander. Erschöpft schlief er an ihrer Schulter ein. Als er aufwachte, war Stepan herausgekommen.
    »Es ist fertig.«
    Als er ins Haus zurückkam, war der Junge verschwunden. Auf dem Feuer stand ein großer Topf, in dem ein Eintopf blubberte. Anna setzte ihn in die Nähe des Feuers, und er nahm die Schale, die Stepan bis zum Rand gefüllt hatte. Er glotzte in die dampfende Brühe. Auf der Oberfläche schwammen zwischen zerstoßenen Eicheln schneeweiße Knöchelchen und Fleischbrocken.
    Anna und Stepan sahen ihm zu. Stepan sagte: »Du solltest sterben, damit unser Sohn leben konnte. Jetzt, wo er tot ist, sollst du leben.«
    Sie boten ihm ihr eigen Fleisch und Blut dar. Ihren eigenen Sohn. Pavel hob die Schale an die Nase. Er hatte schon so lange nichts mehr gegessen, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Die Instinkte gewannen die Oberhand, und er fing an zu löffeln.
    Stepan erklärte ihm: »Morgen brechen wir nach Moskau auf. Hier können wir nicht überleben. Ich habe einen Onkel in der Stadt, vielleicht kann der uns helfen.
    Diese Mahlzeit sollte die letzte vor der Reise sein. Sie sollte uns nach Moskau bringen. Du kannst mit uns kommen. Du kannst aber auch hier bleiben und versuchen, zurück nach Hause zu finden.«
    Sollte er dableiben? Ohne zu wissen, wer er war und wo er war? Was, wenn er sich nie wieder erinnern würde? Wenn es ihm nie wieder einfiel? Wer würde sich dann um ihn kümmern? Was sollte er dann machen?
    Oder sollte er mit diesen Leuten gehen? Wenigstens hatten sie einen Plan, eine Überlebensstrategie.
    »Ich will mit.«
    »Bist du dir sicher?« »Ja.«
    »Ich heiße Stepan. Meine Frau heißt Anna. Und du?«
    Ihm fielen überhaupt keine Namen ein. Außer dem einen, den er eben erst gehört hatte. Konnte er den sagen? Würden sie wütend auf ihn werden?
    »Ich heiße Leo.«

11. Juli
    Raisa wurde zu einer Reihe von Tischen geschoben, die jeweils mit zwei Beamten bemannt waren. Einer kontrollierte im Sitzen einen Stapel Papiere, während ein anderer im Stehen die Gefangenen filzte. Zwischen Männern und Frauen wurden keine Unterschiede gemacht, alle wurden miteinander, nebeneinander in der gleichen groben Manier durchsucht. Es war unmöglich zu wissen, an welchem Tisch sich die eigenen Dokumente befanden. Raisa wurde zu einem ersten Tisch gestoßen, an einen zweiten herangewinkt. Man hatte sie so schnell verfrachtet, dass ihre Papiere noch gar nicht da waren. Ein weiteres Ärgernis war, dass sie die einzige Gefangene war, für die man

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