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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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seine sonst übliche Vorsicht für etwas Persönliches preiszugeben, beinahe eine Art Lust. Er konnte einfach nicht widerstehen. Er winkte dem Wachmann. »Holen Sie Doktor Chwostow.«
    Obwohl es schon spät war, war Chwostow über den so plötzlichen Ruf zur Arbeit durchaus nicht verstimmt.
    Er war neugierig, was wohl so wichtig sein mochte. Er schüttelte Wassili die Hand und ließ sich in knappen Worten die Situation erklären. Ihm fiel auf, dass Wassili Leo nicht etwa als Gefangenen, sondern als Patienten bezeichnete. Chwostow wusste, dass dies notwendig war, um sich gegen etwaige Vorwürfe körperlicher Gewalt zu wappnen. Nachdem man ihn kurz über die ausufernden Wahnvorstellungen des Patienten von einem Kindermörder unterrichtet hatte, befahl er der Wache, Leo in sein Behandlungszimmer zu führen. Die Aussicht herauszubekommen, wo eine so verrückte Idee herkam, erregte ihn.
    Das Behandlungszimmer war noch genauso, wie Leo es in Erinnerung hatte: klein und sauber. Da war der rote Lederstuhl, den man auf den weiß gekachelten Boden geschraubt hatte. Die Glasschränke mit den Fläschchen und Pülverchen und Pillen, die alle mit ordentlichen weißen Etiketten versehen und fein säuberlich mit schwarzer Tinte beschriftet waren. Das stählerne chirurgische Besteck, der Geruch nach Desinfektionsmitteln. Leo wurde auf denselben Stuhl gefesselt, auf den sie auch Brodsky gefesselt hatten, die Handund Fußgelenke wurden mit denselben Lederriemen festgezurrt. Doktor Chwostow füllte eine Spritze mit Kampferöl. Leos Hemd wurde aufgeschnitten, der Arzt fand die Vene. Nichts musste ihm erklärt werden, er hatte das alles schon gesehen. Er öffnete den Mund und wartete auf den Gummiknebel.
    Wassili stand da und beobachtete die Vorbereitungen, er zitterte vor Vorfreude. Chwostow injizierte Leo das Öl. Nach wenigen Sekunden verdrehte Leo die Augen.
    Sein Körper fing an zu zucken. Das war der Moment, von dem Wassili geträumt hatte, den er schon tausendmal in Gedanken durchgespielt hatte. Leo sah lächerlich aus, schwach und jämmerlich.
    Sie warteten, bis die extremeren körperlichen Reaktionen nachgelassen hatten, dann nickte Chwostow. »Hören wir mal, was er zu sagen hat.«
    Wassili nahm den Gummiknebel ab. Speichel tropfte Leo aus dem Mund und in den Schoß. Der Kopf fiel kraftlos nach vorne. »Wie heißt du? Keine Antwort.
    »Wie heißt du?«
    Leo bewegte die Lippen. Er sagte etwas, aber Wassili verstand es nicht.
    Er rückte näher heran. »Wie heißt du?«
    Leos Augen schienen einen Punkt zu erfassen.
    Er blickte starr geradeaus und sagte: »Pavel.«

Am selben Tag
    Wie heißt du? Pavel.
    Als er die Augen aufmachte, sah er, dass er bis zu den Knöcheln im Schnee stand, mitten in einem Wald, über ihm ein heller Mond. Seine Jacke war aus groben Getreidesäcken, die man liebevoll zusammengenäht hatte, so als sei es das beste Leder. Er hob einen Fuß aus dem Schnee. Er hatte keine Schuhe an, stattdessen waren um jeden Fuß Lumpen und Gummistreifen gewickelt, alles mit Band zusammengeschnürt. Er hatte die Hände eines Kindes.
    Jemand zog an seiner Jacke. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein kleiner Junge, der genauso eine grobe Sackleinenjacke anhatte. An den Füßen hatte er die gleichen zusammengebundenen Lumpen und Gummistreifen. Rotz lief ihm aus der Nase. Wie hieß er noch?
    Ein dummer, ergebener Tollpatsch – Andrej hieß er.
    Hinter ihm fing eine abgezehrte, schwarzweiße Katze zu kreischen an, kämpfte im Schnee gegen eine unsichtbare Kraft, die sie peinigte. Die Katze wurde in den Wald gezogen. Um die Pfote hatte sie ein Seil. Jemand zog an dem Seil und schleifte die Katze durch den Schnee. Pavel rannte hinterher. Aber die noch kämpfende Katze wurde immer rascher weggezogen. Pavel lief schneller. Als er sich umschaute, sah er, dass Andrej nicht Schritt halten konnte und zurückfiel.
    Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm, mit dem Ende des Seils in der Hand, stand Stepan, nicht als junger, sondern als älterer Mann. Der Mann, von dem er sich in Moskau verabschiedet hatte. Er hob die Katze hoch, brach ihr das Genick und steckte sie in einen großen Getreidesack. Pavel ging zu ihm hin. »Vater?«
    »Ich bin nicht dein Vater.«
    ***
    Als Pavel die Augen aufmachte, fand er sich im Innern des Getreidesacks wieder – der Kopf blutverschmiert und der Mund vollkommen ausgetrocknet. Er wurde weggeschleppt, sein Kopf schlug gegen den Rücken des Erwachsenen. Es tat ihm so weh, dass ihm schlecht wurde. Irgendetwas war

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