Kind 44
einen gesonderten Bewacher abgestellt hatte. Der führte sie nun zur Seite, ohne dass sie offiziell erfasst worden war. Die fehlenden Dokumente hätten die Art ihres Vergehens und ihr Urteil vermerken sollen. Überall um sie herum hörten Gefangene ausdruckslos zu, wie ihnen erklärt wurde, sie hätten sich AKA, KRRD, PSh, SVPsh, KRM, SOE oder SVE schuldig gemacht – unidentifizierbare Abkürzungen, die den Rest ihres Lebens bestimmen würden.
Mit professioneller Gleichgültigkeit wurden ihnen Worte hingeschleudert wie: Fünf Jahre! Zehn Jahre!
Fünfundzwanzig Jahre!
Dabei konnte man den Wachen ihre ruppige Art noch nicht einmal verdenken. Sie waren vollkommen überarbeitet, mussten sich um viel zu viele Leute kümmern, zu viele Gefangene abfertigen. Wenn sie die Urteile verkündeten, konnte Raisa bei jedem Gefangenen dieselbe Reaktion beobachten: Fassungslosigkeit. Passierte das hier wirklich? Es kam einem vor wie ein Traum, in dem man aus der realen in eine vollkommen neue Welt hineingeschleudert worden war, deren Regeln niemand genau kannte. Welche Gesetze galten an diesem Ort? Was aßen die Leute? Durfte man sich waschen? Was sollten sie anziehen? Hatten sie irgendwelche Rechte? Sie waren wie Neugeborene, und niemand beschützte sie, niemand brachte ihnen die Regeln bei.
Ihr Bewacher führte Raisa am Arm aus der Abfertigungshalle auf den Bahnsteig. Aber sie stieg noch nicht in den Zug, sondern musste warten, bis alle anderen in die aneinandergekoppelten Waggons verfrachtet worden waren, umgebaute Viehtransporter, mit denen Gefangene in die Gulags gebracht wurden. Der Bahnsteig gehörte zwar zum Kasaner Bahnhof, war aber so angelegt, dass er dem Blick der normalen Reisenden verborgen blieb. Den Weg vom Keller der Lubjanka zum Bahnhof hatte Raisa in einem schwarzen Lastwagen zurückgelegt, auf dem die Lettern OBST & GEMÜSE geprangt hatten. Ihr war klar, dass das nicht etwa ein grausamer Scherz von Seiten des Staates war, sondern Teil seines Bemühens, die wahre Anzahl der Verhaftungen zu verschleiern. Gab es eigentlich unter den Lebenden überhaupt noch einen, der niemanden kannte, den man verhaftet hatte? Trotzdem wurde der Schein gewahrt und die Geheimhaltung geflissentlich aufrechterhalten, eine ausgeklügelte Farce, von der sich trotzdem niemand hinters Licht führen ließ.
Raisa schätzte, dass sich auf dem Bahnsteig mehrere 1000 Gefangene befanden. Sie wurden mit einer derartigen Eile in die Waggons getrieben, dass man hätte meinen können, die Wachmänner wollten einen Rekord brechen. Hunderte wurden unter Schlägen auf einem Raum zusammengepfercht, der schon beim ersten Anblick für nicht mehr als 40 oder 50 reichte. Raisa musste sich immer wieder daran erinnern, dass die Regeln ihrer alten Welt nicht mehr galten. Dies hier war die neue Welt, mit neuen Regeln. Da passten jetzt 300 hinein, wo früher 30 hineingepasst hätten. Platz war in der neuen Welt Mangelware, und man durfte keinen vergeuden. Die Logistik für die Verfrachtung von Menschen unterschied sich nicht von der für die Verfrachtung von Getreide: verstauen und mindestens fünf Prozent Verlust einkalkulieren.
Unter all den Leuten, Menschen jeden Alters, manche in Schlips und Kragen, andere in Lumpen, gab es keine Spur von ihrem Mann. Üblicherweise wurden Familien, die in die Gulags wanderten, auseinandergerissen, der eine hierhin, der andere dorthin. Das System brüstete sich damit, gewachsene Bande zu zerstören. Das einzige Verhältnis, das zählte, war das zum Staat. So hatte es Raisa ihren Schülern beigebracht. Da sie angenommen hatte, dass man Leo in ein anderes Lager schicken würde, war sie überrascht gewesen, als man sie auf dem Bahnsteig angehalten und angewiesen hatte zu warten. Auf diesem Bahnsteig hatte sie schon einmal warten müssen, damals, als man sie nach Wualsk verbannt hatte. Es schien ein Markenzeichen von Wassili zu sein, der offenbar Vergnügen daran fand, ihrer Erniedrigung möglichst oft beiwohnen zu können. Es reichte ihm nicht, dass sie litten. Er wollte dabei in der ersten Reihe sitzen.
Sie sah Wassili auf sich zukommen. Er führte einen älteren Mann, der gebückt ging. Als sie keine fünf Meter mehr entfernt waren, erkannte Raisa, dass es sich dabei um ihren Ehemann handelte. Sie starrte Leo an, fassungslos über seine Verwandlung. Er wirkte zerbrechlich, um zehn Jahre gealtert. Was hatten sie mit ihm angestellt? Als Wassili ihn losließ, befürchtete Raisa, er würde gleich zusammenbrechen. Sie
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