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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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schlug der Wachmann das Gitter wieder zu. Leo sah Wassili an. »Es gibt keinen Grund, dass ihr sie oder mich foltert. Du weißt selbst, dass ich mich auskenne. Ich weiß, dass es keinen Zweck hat, sich zu widersetzen. Du kannst mich alles fragen. Ich werde antworten.«
    »Aber ich weiß doch schon alles. Ich habe die Dokumente gelesen, die du zusammengetragen hast. Ich habe auch mit General Nesterow gesprochen. Er war sehr darauf bedacht, dass seine Kinder nicht in einem Waisenhaus aufwachsen. Raisa hat alle seine Informationen bestätigt. Ich habe nur eine Frage an dich: Warum? Warum hast du das bisschen, das dir noch geblieben war, für dieses Hirngespinst riskiert?«
    »Sprichst du von den Morden?«
    »Die Morde sind alle aufgeklärt.«
    Leo antwortete nichts.
    »Das glaubst du nicht, richtig? Meinst du wirklich, dass eine oder mehrere Personen überall im Land ohne irgendeinen Grund willkürlich russische Jungen und Mädchen ermorden?«
    »Ich habe mich getäuscht. Ich hatte eine Theorie, aber ich habe mich getäuscht. Ich distanziere mich davon.
    Ich werde einen Widerruf unterzeichnen und ein Schuldeingeständnis.«
    »Dir ist also klar, dass du dich der schlimmsten Form antisowjetischer Agitation schuldig gemacht hast? Das klingt ganz nach westlicher Propaganda, Leo. Und das könnte ich sogar noch nachvollziehen. Wenn du für den Westen arbeitest, dann bist du ein Verräter. Vielleicht haben sie dir ja Geld versprochen oder Macht, die Dinge, die du verloren hattest. Das könnte ich verstehen. Ist das der Fall?«
    »Nein.«
    »Und genau das beunruhigt mich. Das heißt nämlich, dass du ernsthaft glaubst, diese Morde stünden miteinander in Verbindung und wären nicht das Werk von Perversen, Herumtreibern, Trunkenbolden und unerwünschten Personen. Offen gesagt, das ist verrückt.
    Ich habe mit dir zusammengearbeitet. Ich habe gesehen, wie methodisch du vorgehst. Und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich dich sogar bewundert. Allerdings nur so lange, bis du wegen deiner Frau den Kopf verloren hast. Als sie mir deshalb von deinen neuen Abenteuern erzählt haben, konnte ich mir gar keinen Reim daraufmachen.«
    »Ich hatte eine Theorie. Aber ich habe mich getäuscht.
    Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll.«
    »Warum sollte ein einzelner Mensch all diese Kinder umbringen?«
    Leo starrte den Mann ihm gegenüber an. Einen Mann, der zwei kleine Kinder hatte hinrichten wollen, weil ihre Eltern einen Tierarzt kannten. Er hätte sie in den Hinterkopf geschossen und sich nichts dabei gedacht.
    Trotzdem meinte Wassili die Frage ernst. Warum sollte jemand diese Kinder umbringen wollen?
    Wassili hatte nicht weniger Morde auf dem Gewissen als der Mann, den Leo gejagt hatte, vielleicht sogar mehr. Und trotzdem wunderte er sich, dass die Kindermorde einem logischen Muster folgen sollten. Konnte er sich einfach nur nicht vorstellen, warum jemand, der morden wollte, nicht in den MGB eintrat oder Wachmann in einem Gulag wurde? Diesen Grund hätte Leo immerhin verstanden. Es gab so viele legale Ventile für Brutalität und Mord, warum sollte man da den inoffiziellen Weg gehen? Aber das war nicht seine Sache.
    Wassilis Verwirrung entsprang der Tatsache, dass die Morde offensichtlich kein Motiv hatten. Nicht, dass man sich keinen Mord an einem Kind vorstellen konnte, aber wo war hier der Nutzen? Wo war der Beweggrund? Eine offizielle Notwendigkeit, diese Kinder umzubringen, gab es nicht, weder um des großen Ganzen willen noch wegen eines materiellen Vorteils. Das war es, was Wassili Kopfzerbrechen bereitete.
    Leo wiederholte seine Worte. »Ich hatte eine Theorie.
    Aber ich habe mich getäuscht.«
    »Vielleicht war deine Verbannung aus Moskau und aus einer Truppe, der du so viele Jahre treu gedient hattest, ein größerer Schock für dich, als wir erwartet hatten.
    Du hast schließlich deinen Stolz. Dein Verstand hat eindeutig gelitten. Deshalb werde ich dir helfen, Leo.«
    Wassili stand auf und überdachte die Situation. Nach Stalins Tod hatte man befohlen, jede Form von Gewalt gegen Gefangene zu unterlassen. Wassili, der Überlebenskünstler, hatte sich sofort darauf eingestellt. Aber jetzt hatte er Leo am Wickel. Wie konnte er da einfach das Feld räumen und ihn seiner Verurteilung überlassen? Reichte das? Würde ihm das genügend Befriedigung verschaffen? Ihm wurde klar, dass seine Rachlust gegenüber Leo mittlerweile für ihn ebenso gefährlich war wie für Leo, trotzdem wandte er sich zur Tür. Offenbar war er bereit,

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