Kind 44
wollende Pein. Der Zug fuhr in einem derartigen Schneckentempo, dass durch die schmalen Ritzen in der Holzverkleidung nicht das leiseste Lüftchen drang.
Und selbst wenn es frische Luft gegeben hätte, wäre sie von den Gefangenen aufgesogen worden, die in der glücklichen Lage waren, auf den Bänken zu sitzen.
Aber wenn man sich erst einmal von seiner Wut verabschiedet hatte, hielt man sogar die unerträgliche Hitze und den bestialischen Gestank aus. Überleben hieß Anpassung. Einer der Gefangenen allerdings, ein Mann mittleren Alters, hatte ohne großes Aufheben beschlossen, sich den neuen Regeln nicht zu fügen. Raisa wusste nicht, wann genau er gestorben war. Niemand hatte etwas bemerkt, und falls doch, hatten sie nichts gesagt.
Als der Zug am Abend zuvor angehalten hatte und alle für ihren Schluck Wasser ausgestiegen waren, hatte jemand gerufen, ein Mann sei tot. Raisa war an seiner Leiche vorbeigekommen. Der Mann hatte wohl entschieden, dass diese neue Welt nichts für ihn war. Er hatte aufgegeben, dichtgemacht, sich selbst abgeschaltet wie eine Maschine. Todesursache: Hoffnungslosigkeit. Mangelndes Interesse am Weiterleben, wenn dies alles sein sollte, wofür man überlebte. Seine Leiche wurde aus dem Zug geworfen, rollte den Bahndamm hinunter und war nicht mehr zu sehen.
Raisa schaute Leo an. Während der Fahrt hatte er die meiste Zeit über geschlafen, an sie geschmiegt wie ein Kind. Wenn er wach war, machte er einen ruhigen Eindruck, weder verstört noch aufgebracht, so als sei er mit seinen Gedanken ganz woanders. Er zog die Stirn in Falten, als versuche er etwas zu verstehen. Sie hatte seinen Körper nach Anzeichen von Folter abgesucht und an seinem Arm einen großen Bluterguss gefunden.
An den Arm- und Beingelenken waren Riemenabdrücke. Man hatte ihn also gefesselt. Raisa hatte keine Ahnung, was er durchgemacht haben mochte, aber es war wohl eher eine psychologische und chemische Tortur gewesen, statt einfach nur ordinäres Zufügen von Wunden und Verbrennungen. Raisa hatte seinen Kopf gestreichelt und ihn geküsst, mehr Linderung konnte sie nicht anbieten. Sie hatte ihm seine Scheibe Schwarzbrot und sein Stückchen salzigen Trockenfisch geholt, das Einzige, was sie bislang zu essen bekommen hatten. Der Fisch war voller kleiner Gräten und so mit Salz überkrustet, dass einige der vollkommen ausgehungerten Gefangenen ihn einfach nur in der Hand behalten hatten, weil sie die Vorstellung nicht ertragen konnten, ihn ohne Wasser zu essen. Der Durst war noch schlimmer als der Hunger. Raisa hatte so viel Salz wie möglich abgekratzt und Leo dann mit kleinen Häppchen gefüttert.
Jetzt setzte Leo sich auf und sprach zum ersten Mal, seit sie in den Zug gestiegen waren. Er war kaum zu hören, und Raisa lehnte sich näher heran, um ihn zu verstehen. »Oksana war eine gute Mutter. Sie hat mich geliebt. Und ich habe die beiden verlassen. Habe beschlossen, nicht zurückzugehen. Mein kleiner Bruder wollte immer Karten spielen, und ich habe jedes Mal gesagt, ich hätte keine Zeit.«
»Wen meinst du, Leo? Wer ist dein Bruder? Von wem redest du denn?«
»Meine Mutter hat sich dagegen gewehrt, dass sie die Kirchenglocke mitnehmen.«
»Anna? Redest du über Anna?« »Anna ist nicht meine Mutter.«
Raisa wiegte seinen Kopf und fragte sich, ob er am Ende verrückt geworden war. Sie sah sich im Wagen um. Leos Hilflosigkeit machte ihn zu einer einfachen Beute.
Die meisten Gefangenen waren viel zu verschreckt, um eine Bedrohung darzustellen. Alle außer den fünf Männern, die auf einer hohen Bank im hintersten Winkel saßen. Anders als die anderen Passagiere schienen sie keine Angst zu haben und sich in dieser Umgebung nicht unwohl zu fühlen. Raisa nahm an, dass es sich um echte Kriminelle handelte, die man für Raub oder Diebstahl verurteilt hatte. Für solche Verbrechen gab es viel kürzere Strafen, als die politischen Gefangenen um sie herum zu erwarten hatten, die Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Schriftsteller und Tänzer.
Diese fünf schienen die Regeln dieser neuen Welt viel besser zu verstehen als die Regeln der anderen Welt.
Ihre Überlegenheit resultierte nicht nur aus ihrer offensichtlichen Körperkraft. Raisa hatte bemerkt, dass die Wachen ihnen zusätzliche Macht verliehen hatten. Sie redeten mit ihnen wie mit ihresgleichen, und wenn schon nicht wie mit ihresgleichen, so doch zumindest, als seien sie normale Menschen. Die anderen Gefangenen hatten Angst vor ihnen und machten ihnen Platz. Sie
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