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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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konnten ihre Bank verlassen, austreten und ihr Wasser holen, ohne Angst haben zu müssen, ihren Logenplatz zu verlieren, weil niemand es wagte, ihnen den streitig zu machen. Von einem Mann, den sie offensichtlich nicht kannten, hatten sie bereits verlangt, dass er ihnen seine Schuhe gab. Als er gefragt hatte, warum, hatten sie ihn damit beschieden, er habe sie in einer Wette verloren. Raisa war froh gewesen, dass der Mann nicht nachgefragt hatte. Neue Welt, neue Regeln. Er hatte einfach seine Schuhe abgegeben und dafür ein Paar zerfledderte bekommen.
    Der Zug hielt. Aus jedem Waggon erschollen Rufe nach Wasser, die Wachen ignorierten sie, äfften sie nach oder blafften zurück, Wasser! Wasser! Wasser! – als sei die Bitte abwegig. Es schien so, als hätten sich alle Wachen an ihrem Waggon versammelt.
    Die Tür wurde aufgeschoben und Befehle gebellt, die Gefangenen sollten zurücktreten. Dann riefen die Wachen nach den fünf Männern. Wie Urwaldtiere schwangen die sich von ihrer Bank, drängelten sich durch die anderen Gefangenen und verließen den Zug.
    Irgendetwas stimmte nicht. Raisa senkte den Kopf, ihr Atem ging schneller. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Männer zurückkommen hörte. Sie wartete.
    Dann hob sie langsam den Kopf und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die Männer zurück in den Waggon kletterten.
    Alle fünf starrten sie an.

Am selben Tag
    Raisa nahm seinen Kopf in die Hände. »Leo?«
    Sie hörte, wie sie kamen. Man konnte sich in dem überfüllten Waggon nur bewegen, indem man die auf dem Boden sitzenden Gefangenen beiseite drängte.
    »Leo, hör mir zu. Wir sind in Schwierigkeiten.«
    Er rührte sich nicht, schien sie nicht einmal zu verstehen. Offenbar merkte er gar nicht, in welcher Gefahr sie schwebten.
    »Leo, bitte. Ich flehe dich an.«
    Es half nichts. Raisa stand auf und drehte sich den näherkommenden Männern zu. Was konnte sie sonst schon tun? Leo lag nach wie vor zusammengekauert hinter ihr auf dem Boden. Sie nahm sich vor, sich so lange wie möglich zu wehren.
    Ihr Anführer, der größte der Männer, trat vor und packte sie am Arm. Raisa hatte damit gerechnet und schlug ihm mit der freien Hand aufs Auge. Ihre ungeschnittenen, schmutzigen Fingernägel kratzten ihm die Haut rund um das Auge auf. Sie hätte ihm das Auge ausreißen sollen, und der Gedanke war ihr auch durchaus gekommen, aber dann konnte sie ihm doch nur eine Fleischwunde verpassen. Der Mann schleuderte sie zu Boden. Sie purzelte auf andere Gefangene, die aus dem Weg krabbelten. Dieser Kampf ging sie nichts an, und sie würden ihr auch nicht helfen. Raisa war auf sich allein gestellt. Sie versuchte, vor ihren Angreifern davonzukriechen, stellte aber fest, dass das nicht ging. Jemand hielt ihr Bein fest. Weitere Hände packten sie, hoben sie hoch und warfen sie auf den Rücken. Einer der Männer ging auf die Knie, hielt ihre Arme fest und drückte sie zu Boden, während der Anführer ihr die Beine auseinandertrat. In der Hand hielt er einen großen, scharfkantigen Metallsplitter, er sah aus wie ein riesiger Zahn.
    »Wenn ich dich fertig gefickt habe, dann ficke ich dich hiermit.«
    Er deutete auf den Splitter, und Raisa kapierte sofort, dass er ihn gerade erst von den Wachen bekommen hatte. Sie konnte sich nicht rühren und wandte sich zu Leo um.
    Er war verschwunden.
    Leos Gedanken hatten sich von dem Wald, der Katze, dem Dorf und seinem Bruder abgewandt. Seine Frau war in Gefahr. Mühsam versuchte er, die Situation zu erfassen, und fragte sich, warum auf ihn überhaupt keiner achtete. Vielleicht hatte man den Männern ja erklärt, er sei geistesgestört und ungefährlich. Wie auch immer, er hatte sich aufrappeln können, ohne dass die Männer reagierten. Ihr Anführer knöpfte sich gerade die Hose auf. Bis er merkte, dass Leo vor ihm stand, waren sie nur noch um Armeslänge voneinander entfernt.
    Der Anführer grinste höhnisch und schlug ihm ins Gesicht. Leo wehrte den Schlag nicht ab und duckte sich auch nicht, sondern ging einfach zu Boden. Mit aufgeplatzter Lippe lag er auf den Holzplanken und hörte die Männer lachen. Sollten sie nur lachen. Der Schmerz half ihm, sich zu konzentrieren. Sie waren sich ihrer Sache zu sicher, stark zwar, aber nicht trainiert. Während Leo wieder aufstand, tat er bewusst so, als sei er unsicher auf den Beinen und schwerfällig. Dabei drehte er den Männern den Rücken zu, ein einladendes Ziel. Er hörte, wie jemand auf ihn zukam, einer hatte also den Köder geschluckt.

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