Kind 44
Eisennägel frei, mit denen die Holzbohlen am Waggon vernietet waren. Von innen war keiner der Nägel zu erreichen, sie waren alle von unten hereingeschlagen worden. Die einzige Möglichkeit heranzukommen war durch das kleine Loch, das kaum größer war als seine Faust. Er hatte dem toten Mann das Hemd ausgezogen und die Stelle, so gut es ging, gesäubert. Es war eher ein symbolischer Versuch gewesen. Um an die Nägel heranzukommen, musste er sein Gesicht seitwärts gegen das stinkende, mit Pisse und Scheiße beschmierte Holz drücken. Würgend und ohne etwas sehen zu können, fingerte er an den drei Eisennägeln herum, die er lediglich ertasten konnte. Splitter drangen ihm in die Haut. Raisa hatte vorgeschlagen, die Arbeit zu übernehmen, da ihre Hände und Handgelenke schmaler waren. Das stimmte zwar, aber dafür hatte Leo eine größere Reichweite, und wenn er seinen Arm so weit reckte, wie es nur ging, kam er gerade eben an alle drei Nägel heran.
Mit einem Streifen Hemdstoff um Mund und Nase als notdürftigem Schutz gegen den Gestank zog er an dem dritten und letzten Nagel, kratzte und schabte an dem Holz herum und versuchte gerade so tiefe Löcher hineinzumeißeln, dass er den Metallsplitter unter den Nagelkopf keilen und ihn hinausstemmen konnte. Es hatte ihn viele Stunden gekostet, die ersten beiden Nägel herauszubekommen, auch weil die Arbeit immer wieder von Gefangenen unterbrochen wurde, die sich erleichtern mussten.
Der letzte Nagel stellte sich als der schwierigste heraus.
Teilweise lag das an Leos Müdigkeit. Es war schon spät, vielleicht zwei Uhr morgens. Aber mit dem Nagel stimmte auch etwas nicht. Leo brachte zwar sein Werkzeug unter den Kopf, aber er bekam ihn nicht los. Der Nagel war vermutlich verbogen, schief eingeschlagen worden. Er kam einfach nicht heraus. Leo würde noch mehr Holz wegbrechen müssen. Als ihm klar wurde, dass es mindestens noch eine Stunde dauern würde, rollte eine Welle der Erschöpfung durch seinen Körper.
Seine Finger waren blutig und aufgescheuert, sein Arm schmerzte und er bekam den Gestank nach Scheiße nicht aus der Nase. Plötzlich ruckelte der Zug. Leo hatte sich einen Moment lang nicht konzentriert, und der Stahlsplitter glitt ihm aus den Fingern und schepperte auf die Gleise unter ihm.
Leo zog die Hand aus dem Loch. Raisa war neben ihm.
»Fertig?«
»Ich hab ihn fallen lassen. Den Stahl.«
Leo war außer sich, dass er so dumm gewesen war, die anderen Nägel weggeworfen zu haben. Jetzt hatte er kein Werkzeug mehr.
Als Raisa die blutigen Finger ihres Mannes sah, zerrte sie an der Bohle und versuchte sie hochzuheben. Eine Seite hob sich ein Stückchen, aber nicht genug, dass man drunterfassen konnte.
Leo wischte sich die Hände ab und schaute sich nach etwas anderem um, das er benutzen könnte. »Ich muss mich durchs Holz kratzen und den letzten Nagel freilegen.«
Raisa hatte beobachtet, dass alle Gefangenen von oben bis unten durchsucht worden waren, bevor sie in den Zug steigen durften. Sie bezweifelte, dass einer noch irgendwelche Metallteile bei sich hatte. Als sie noch über das Problem nachdachte, fiel ihr Blick auf den nächstliegenden der beiden Toten. Er lag auf dem Rücken, sein Mund stand offen. Raisa wandte sich zu ihrem Mann um.
»Wie lang und wie scharf muss es sein?«
»Ich bin fast durch. Aber ich brauche etwas Härteres als meine Fingerkuppe.«
Raisa stand auf und ging zu dem Mann, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen und zu töten. Der Gedanke an Rache beherrschte sie weniger als ein Gefühl des Abscheus, als sie den Kopf des Mannes so hinlegte, dass sein Kiefer nach oben wies. Sie hob einen Stiefel direkt über seinem Mund und blickte sich zögernd um.
Alle sahen zu. Sie schloss die Augen und trat dem Toten mit der Ferse gegen den Oberkiefer.
Leo kroch herbei, griff in die Mundhöhle des Mannes und holte einen Zahn hervor, dessen blutige Wurzel noch an einem Stückchen Kiefer hing. Es war ein Schneidezahn. Nicht ideal, aber scharf und hart genug, dass er damit weiterschaben konnte. Er kehrte zu dem Loch zurück und legte sich auf den Bauch. Mit dem Zahn in der Hand schob er den Arm hindurch und kratzte sich weiter durchs Holz und zog lose Splitter weg.
Der Nagel war jetzt vollkommen freigelegt. Leo umschloss den Zahn mit der Hand, falls er noch weiter würde schaben müssen. Dann griff er mit der anderen nach dem Nagelkopf, aber seine Finger waren wund, und er bekam ihn nicht richtig zu fassen. Er zog den Arm wieder aus dem
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