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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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halten. Jede Sekunde konnten die Türen aufgeschoben werden, und die Wachen würden mit gezückten Pistolen hereinkommen.
    Eine Frau auf einer der Bänke rief: »Ich bin aus Rostow.
    Ich habe von diesen Morden gehört. Kinder, denen man den Magen herausgeschnitten hat. Sie schieben es auf eine Gruppe westlicher Spione, die unser Land infiltriert haben.«
    Leo antwortete: »Ich glaube, dass der Mörder aus Ihrer Stadt kommt und auch dort arbeitet. Aber ich bezweifle, dass er ein Spion ist.«
    Eine andere Frau rief: »Wenn Sie ihn finden, machen Sie ihn dann kalt?«
    »Ja.«
    Der Zug blieb stehen. Man konnte die Wachen näherkommen hören. Leo fügte noch rasch hinzu: »Ich habe keinen Grund, auf Ihre Hilfe zu rechnen. Aber ich bitte Sie trotzdem darum.«
    Leo und Raisa hockten sich zwischen die anderen Gefangenen. Raisa legte die Arme um Leo und verbarg seine blutverschmierten Hände.
    Als die Wachen die beiden Leichen fanden, verlangten sie eine Erklärung.
    »Wer hat sie getötet?«
    Die Antwort war Schweigen. Leo beobachtete über die Schulter seiner Frau hinweg aus den Augenwinkeln die Wachen. Sie waren jung und gleichgültig. Leute, die Befehle befolgten, ohne sich Gedanken zu machen. Die Tatsache, dass sie Leo und Raisa nicht selbst getötet hatten, zeigte, dass sie keine Befugnis hatten. Es musste heimlich geschehen und durch Mittelsmänner. Ohne Anweisungen würden sie nichts unternehmen, dazu waren sie nicht entschlussfreudig genug. Lieferte man ihnen allerdings nur die kleinste Rechtfertigung, würden sie möglicherweise die Gelegenheit nutzen. Alles hing von diesen Fremden hier im Waggon ab.
    Die Wachen fingen an zu schreien und hielten den Nächststehenden ihre Waffen an die Köpfe. Aber die Gefangenen sagten nichts. Die Wachen schnappten sich ein älteres Ehepaar. Die waren gebrechlich und würden schon reden. »Wer hat diese Männer umgebracht? Was war hier los? Redet!«
    Einer der Wachleute hob seinen stahlkappenbewehrten Stiefel über den Kopf der Frau. Sie weinte, ihr Mann flehte, aber keiner von beiden antwortete auf die Frage.
    Ein zweiter Wachmann kam auf Leo zu. Wenn er ihn aufstehen hieß, würde er sein blutverschmiertes Hemd sehen.
    Eines der übriggebliebenen Bandenmitglieder kam von seiner Bank und ging zu den Wachen. Es war derjenige, der Leo gesagt hatte, sie suchten keinen Streit. Sicher wollte er jetzt die Belohnung einstreichen, die man ihnen versprochen hatte. Doch stattdessen rief er: »Lassen Sie sie in Ruhe. Ich weiß, was passiert ist. Ich sage es Ihnen.«
    Die Wachen wandten sich von dem älteren Ehepaar und von Leo ab. »Rede.«
    »Sie haben sich gegenseitig umgebracht. Wegen eines Kartenspiels.«
    Leo begriff, dass die Weigerung der Bande, sie auszuliefern, einer gewissen perversen Logik folgte. Diese Männer waren zwar bereit, für einen geringen Vorteil zu vergewaltigen und zu morden, aber sie würden niemanden verpfeifen. Kein Spitzel zu sein war eine Frage der Ganovenehre. Wenn andere Urki, Mitglieder ihrer Verbrecherzunft, herausfanden, dass sie zum eigenen Vorteil Gefangene ans Messer lieferten, würde man ihnen das nie verzeihen. Wahrscheinlich würde man sie sogar töten.
    Die Wachen tauschten einen Blick aus. Weil sie nicht wussten, was sie machen sollten, beschlossen sie, gar nichts zu tun. Sie hatten ja keine Eile. Die Reise nach Vtoraja Rechka an der Pazifikküste dauerte Wochen, da würden sich schon noch genügend Gelegenheiten ergeben. Sie würden weitere Befehle abwarten oder sich einen neuen Plan ausdenken.
    Einer der Wachleute wandte sich an die Gefangenen im Waggon. »Zur Strafe laden wir die Leichen nicht ab.
    In dieser Hitze fangen sie rasch an zu verwesen und zu stinken, und dann werdet ihr schon sehen. Vielleicht redet ihr ja dann.«
    Selbstzufrieden sprang er aus dem Waggon. Die anderen Wachleute folgten ihm. Die Tür wurde zugeschoben.
    Nach einiger Zeit setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ein junger Mann mit einer zerbrochenen Brille linste Leo durch das zersplitterte Glas an und fragte flüsternd: »Wie wollen Sie denn entkommen?«
    Er hatte ein Recht, es zu erfahren. An ihrer Flucht hatten nun alle in diesem Waggon Anteil. Sie hingen alle mit drin. Statt einer Antwort hob Leo den Stahlsplitter. Die Wachen hatten vergessen, ihn wieder mitzunehmen.

220 Kilometer östlich von Moskau
13. Juli
    Leo lag flach auf dem Boden und hatte den Arm durch das Loch gezwängt, das von den Gefangenen als Abort benutzt wurde. Mit dem Stahlsplitter schabte er die

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