Kind 44
Als er über die Schulter spähte, sah er, wie der Anführer mit dem Metallsplitter nach ihm schlug, um ihn endgültig zu erledigen. Leo machte einen schnellen Ausfallschritt und überrumpelte den Gegner. Bevor der sich von seiner Überraschung erholen konnte, schlug Leo ihm gegen die Kehle und nahm ihm die Luft. Der Mann keuchte. Leo bekam seine Hand zu fassen, entwand ihm den Metallsplitter und schlug ihm die Spitze in den muskulösen Hals. Er schlug noch einmal zu, diesmal trieb er das Metall ganz hinein und durchtrennte dabei sämtliche Sehnen, Venen und Arterien. Er zog seine Waffe heraus, der Mann ging zu Boden und hielt sich die Wunde an seinem Hals.
Das am nächsten stehende Mitglied der Bande kam ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Leo ließ zu, dass sein neuer Gegner ihm den Hals umklammerte und stieß ihm dann durch sein Hemd das Metall in den Bauch und zog seitwärts durch. Der Mann röchelte, aber Leo zog den Splitter weiter, durchtrennte Haut und Muskeln. Der Verwundete ließ Leos Hals los, stand nur da und starrte auf seinen blutenden Bauch hinab, als sei er darüber verblüfft. Dann brach er zusammen.
Leo wandte sich den übrigen drei Männern zu. Sie hatten jedes Interesse an der Auseinandersetzung verloren. Was auch immer man ihnen angeboten hatte, diesen Kampf war es nicht wert. Vielleicht waren ihnen erheblich bessere Essensrationen oder leichtere Lagerarbeit versprochen worden. Einer der Männer, der dies vielleicht als Chance begriff, innerhalb der Bande aufzusteigen, übernahm das Kommando. Er hob die Hände wie jemand, der gerade beim Kartenspiel verloren hat: »Wir suchen keinen Streit.«
Leo antwortete nicht. Seine Hände waren voller Blut, aus der einen ragte der Metallsplitter hervor. Die Männer zogen sich zurück, ohne sich um den Toten und den Verwundeten zu kümmern. Wer verloren hatte, mit dem hatte man nichts mehr zu schaffen.
Leo half Raisa hoch und umarmte sie. »Es tut mir leid.«
Der Verwundete rief um Hilfe. Der erste Mann mit dem aufgeschlitzten Hals war bereits gestorben, aber der mit dem verletzten Bauch lebte noch. Er war bei Bewusstsein und hielt sich seine Wunde. Leo blickte auf ihn hinab und schätzte die Schwere der Verletzung ein.
Sein Sterben würde lange dauern, es würde schmerzhaft und langsam vonstatten gehen. Gnade verdiente er nicht, aber wenn man es abwog, war es für die anderen Gefangenen besser, dass er schnell starb. Niemand hatte Lust, sich sein Geschrei anzuhören. Leo hockte sich hin, umklammerte seinen Hals und erwürgte ihn.
Als er wieder neben Raisa saß, flüsterte sie ihm zu.
»Die Wachen haben ihnen gesagt, dass sie uns umbringen sollen.«
Leo dachte einen Moment darüber nach, dann antwortete er: »Unsere einzige Chance ist zu fliehen.«
Der Zug wurde langsamer. Wenn er anhielt, würden die Wachen die Tür öffnen und erwarten, dass Leo und Raisa tot waren. Wenn sie entdeckten, dass stattdessen zwei der Attentäter nicht mehr lebten, würden sie wissen wollen, wer sie umgebracht hatte. Irgendeiner der Gefangenen würde mit Sicherheit auspacken, entweder aus Angst vor Folter oder in der Hoffnung auf eine Belohnung. Damit hätten die Wachen Grund genug, Leo und Raisa hinzurichten.
Leo wandte sich an die anderen Gefangenen. Schwangere Frauen waren dabei, alte Männer, die die Gulags bestimmt nicht überleben würden, Väter, Brüder, Schwestern. Normale, unauffällige Leute, so wie er sie selbst früher verhaftet und in die Lubjanka gebracht hatte. Und jetzt musste er sie um ihre Hilfe bitten.
»Mein Name spielt keine Rolle. Bevor ich verhaftet wurde, habe ich die Mordfälle von über 40 Kindern untersucht, Morde vom Ural bis zum Schwarzen Meer.
Jungen wie Mädchen. Ich weiß, dass ein solches Verbrechen schwer vorstellbar ist, einige von Ihnen halten es vielleicht sogar für unmöglich. Aber ich habe die Leichen selbst gesehen, und ich bin sicher, dass immer ein und derselbe Mann dahintersteckt. Er tötet die Kinder nicht wegen Geld oder Sex oder aus einem Grund, den ich erklären könnte. Er bringt einfach Kinder um, egal welche und egal aus welcher Stadt. Und er wird weiter morden. Mein eigenes Verbrechen war, dass ich gegen ihn ermittelt habe. Und meine Verhaftung bedeutet, dass er weiter töten kann. Niemand sonst ist hinter ihm her. Meine Frau und ich müssen fliehen, damit wir ihn aufhalten können. Aber ohne Ihre Hilfe können wir nicht fliehen. Wenn Sie die Wachen rufen, sind wir tot.«
Schweigen. Gleich würde der Zug
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