Kind 44
weiter, als Andrej je gekommen war. Oft musste er in Laufschritt verfallen, um hinter-herzukommen. Die Beine taten ihm weh, der Bauch tat ihm weh, ihm war kalt, und Hunger hatte er auch. Zu Hause gab es vielleicht nichts zu essen, aber da schmerzten einem wenigstens nicht die Füße. Die Schnur, die die Fußlappen und die Gummistreifen zusammenhielt, hatte sich gelockert, und er spürte, wie sich Schnee unter seine Fußsohlen schob. Er traute sich nicht, seinen Bruder zu bitten, stehen zu bleiben und sie wieder fest zu binden. Andrej hatte es versprochen – keinen Mucks. Bald würde der Schnee schmelzen, die Lappen würden nass und seine Füße taub werden. Um auf andere Gedanken zu kommen, knickte er einen Zweig von einem jungen Baum ab und kaute die Rinde, bis er sie zu einer groben Paste zermahlen hatte, die sich auf den Zähnen und der Zunge pelzig anfühlte.
Pavel hatte ihm erzählt, dass Rindenpampe das Hungergefühl stoppte. Er glaubte ihm, es war vernünftig, daran zu glauben.
Plötzlich machte Pavel ihm ein Zeichen anzuhalten. Andrej blieb wie angewurzelt stehen. Seine Zähne hatten sich von den Rindenbröckchen braun gefärbt. Pavel kauerte sich hin. Andrej machte es ihm nach und suchte den Wald ab nach dem, was auch immer sein Bruder entdeckt haben mochte. Er blinzelte und versuchte, die Bäume deutlicher zu sehen.
Pavel starrte die Katze an, und die Katze schien ihn mit ihren kleinen, grünen Augen ebenfalls anzustarren.
Was ging in ihr vor? Warum rannte sie nicht weg? Vielleicht hatte sie noch nicht gelernt, vor Menschen Angst zu haben, weil sie in Marias Haus versteckt gewesen war. Pavel zog sein Messer hervor, schnitt sich in die Fingerspitze und schmierte Blut auf den Hühnerknochen, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Dasselbe machte er mit Andrejs Köder, einem zertrümmerten Rattenschädel. Er nahm dazu sein eigenes Blut, weil er Andrej nicht traute. Der würde womöglich aufjaulen und die Katze verscheuchen. Wortlos trennten sich die beiden und entfernten sich in entgegengesetzte Richtungen. Pavel hatte seinem Bruder schon zu Hause genaue Anweisungen gegeben. Als sie sich ein Stück voneinander entfernt hatten, legten sie zu beiden Seiten der Katze die Knochen in den Schnee. Pavel linste zu seinem Bruder hinüber, um sicher zugehen, dass der nichts verbockte.
Andrej machte genau, was man ihm gesagt hatte. Er zog das Stück Schnur aus seiner Tasche, deren Ende Pavel schon zu einer Schlinge geknotet hatte. Andrej musste die jetzt nur noch um den Rattenschädel herumlegen. Nachdem er das erledigt hatte, trat er so weit zurück, wie es das Seil zuließ, dann legte er sich auf den Bauch und drückte dabei den knirschenden Schnee zusammen. Er lag da und wartete. Erst jetzt, auf dem Boden, bemerkte er, dass er seinen Köder kaum erkennen konnte. Alles war verschwommen. Plötzlich bekam Andrej es mit der Angst zu tun und hoffte inständig, dass die Katze sich seinem Bruder zuwenden würde. Der würde keinen Fehler machen. Er würde sie fangen, und dann konnten sie heimgehen und essen.
Vor Nervosität und Kälte fingen ihm die Hände zu zittern an. Er versuchte, sie ruhig zu halten. Er sah etwas.
Ein undeutlicher schwarzer Fleck kam auf ihn zu.
Andrejs Atem fing an, den Schnee vor seinem Gesicht zu schmelzen. Tropfen kalten Wassers rannen auf ihn zu und krochen ihm in die Kleider. Er wollte, dass die Katze in die andere Richtung lief, auf die Falle seines Bruders zu, aber als der schwarze Fleck immer näher und näher kam, gab es nichts mehr daran zu deuteln, dass die Katze sich ihn ausgesucht hatte. Klar, wenn er die Katze fing, dann würde Pavel ihn lieben und mit ihm Karten spielen und nie mehr böse auf ihn sein. Die Vorstellung gefiel ihm, und seine Laune verwandelte sich von Grauen in Jagdfieber. Jawohl, er würde derjenige sein, der die Katze fing. Er würde sie töten. Er würde es seinem Bruder zeigen. Was hatte der noch mal gesagt? Er hatte ihn davor gewarnt, die Schlinge zu früh zuzuziehen. Wenn die Katze verschreckt wurde, war alles verloren. Aus diesem Grund und weil er nicht ganz genau sagen konnte, wo die Katze stand, beschloss Andrej zu warten, nur um sicherzugehen. Fast konnte er das schwarze Fell und die vier Beine ausmachen. Andrej würde noch ein kleines bisschen warten, noch ein kleines bisschen ... da hörte er seinen Bruder fauchen: »Jetzt!«
Andrej geriet in Panik. Diesen Tonfall kannte er zur Genüge. Er bedeutete, dass er etwas falsch gemacht hatte. Er blinzelte
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