Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
sich zu rühren. »Du kannst jetzt aufstehen.«
    Er konnte jetzt aufstehen. Er konnte sich neben seinen Bruder stellen, mit stolzgeschwellter Brust. Er hatte ihn nicht enttäuscht. Hatte nicht versagt. Er streckte den Arm aus, nahm die Hand seines Bruders und stand auf.
    Ohne ihn hätte Pavel die Katze nicht fangen können.
    Die Schnur wäre gerissen. Die Katze wäre abgehauen.
    Andrej lächelte, und dann lachte er und klatschte in die Hände und drehte sich tanzend im Kreis. Er war so glücklich wie noch nie in seinem ganzen Leben. Sie beide waren Partner. Pavel umarmte ihn, und dann besahen sie sich ihre Trophäe: eine abgemagerte, tote, in den Schnee gedrückte Katze.
    Die Vorsicht gebot, dass sie ihre Beute unbeobachtet ins Dorf zurückschafften. Für so einen Fang würden die Leute sich prügeln, sogar töten, und vielleicht hatte das Gekreisch der Katze ja jemanden alarmiert. Pavel wollte nichts dem Zufall überlassen. Einen Sack oder eine Tasche, worin sie die Katze hätten verstecken können, hatten sie nicht dabei, also mussten sie improvisieren. Pavel beschloss, dass sie sie unter einem Stapel Äste verstecken würden. Wenn sie dann auf dem Nachhauseweg jemandem begegneten, würde es so aussehen, als hätten sie Feuerholz gesammelt, und keiner würde sich wundern. Er hob die Katze aus dem Schnee:
    »Ich trage sie unter einem Stapel Äste, damit keiner sie sieht. Aber wenn wir tatsächlich Feuerholz sammeln würden, dann hättest du auch welches auf dem Arm.«
    Andrej war beeindruckt, sein Bruder dachte einfach an alles. Darauf wäre er nie gekommen. Er machte sich daran, Holz aufzulesen. Die Erde war schneebedeckt, und das machte es schwierig, irgendwelche losen Äste zu finden. Er musste den Schnee mit bloßen Händen durchpflügen. Nach jedem Versuch rieb er die Handflächen aneinander und hauchte hinein. Mittlerweile lief ihm der Rotz aus der Nase und sammelte sich auf seiner Oberlippe, aber das machte ihm nichts aus, nicht heute Abend, nicht nach diesem Triumph. Andrej fing an, ein Lied zu summen, das sein Vater immer gesungen hatte, und grub die Finger wieder in den Schnee.
    Weil auch Pavel Schwierigkeiten hatte, Äste zu finden, hatte er sich von seinem jüngeren Bruder getrennt. In einiger Entfernung sah er einen umgestürzten Baum, dessen Äste nach allen Seiten abstanden. Er eilte darauf zu und legte die Katze in den Schnee, damit er beide Hände frei hatte, um totes Holz von dem Stamm zu brechen. Hier gab es reichlich, mehr als genug für sie beide, und Pavel schaute sich nach Andrej um. Er wollte ihn schon rufen, aber dann blieb ihm das Wort im Halse stecken. Er hatte ein Geräusch gehört. Ruckartig drehte er sich um. Der Wald war dicht und finster.
    Pavel schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Geräusch. Es hörte sich irgendwie gleichmäßig an.
    Knirsch, knirsch, knirsch. Das war Schnee. Es wurde schneller und lauter. Ein eisiger Schreck jagte durch Pavels Körper, und er riss die Augen wieder auf. Da drüben im Dunkeln bewegte sich was. Ein Mann, er rannte. Er hatte einen dicken Knüppel in der Hand. Mit langen Sätzen kam er direkt auf Pavel zu. Bestimmt hatte er gehört, wie sie die Katze getötet hatten, und jetzt wollte er ihnen ihre Beute abspenstig machen.
    Aber nicht mit Pavel. Er würde nicht zulassen, dass ihre Mutter hungerte. Er würde nicht so ein Versager sein wie sein Vater. Mit den Füßen schaufelte er Schnee über die Katze und versuchte sie zu verstecken.
    »Wir sammeln ...« Pavel verstummte, als der Mann zwischen den Bäumen hervorgeprescht kam und seinen Prügel hob. Erst jetzt, als er das hagere Gesicht des Mannes und seinen irren Blick sah, wurde Pavel klar, dass der Mann gar nicht hinter der Katze her war. Er war hinter ihm her.
    Pavel riss den Mund auf, und schon im nächsten Moment sauste der schwere Ast herab, das Ende traf ihn mitten auf dem Kopf. Pavel spürte nichts, er merkte nur, dass er nicht mehr stand, sondern auf den Knien war. Mit zur Seite geneigtem Kopf schielte er nach oben, Blut lief ihm in die Augen, aber er sah noch, wie der Mann zum zweiten Mal ausholte.
    ***
    Andrej hörte auf zu summen. Hatte ihn da eben sein Bruder gerufen? Besonders viele Äste hatte er nicht gefunden, bestimmt nicht genügend für ihren Plan. Andrej wollte nicht ausgeschimpft werden, nicht nachdem er sich so gut geschlagen hatte. Er zog die Hände aus dem Schnee und stand auf. Dann spähte er blinzelnd in den Wald. Selbst die nächststehenden Bäume konnte er nur als

Weitere Kostenlose Bücher