Kind 44
»Nimm Andrej mit.«
***
Andrej war fast acht Jahre alt, und er liebte seinen Bruder sehr. Er ging selten nach draußen, sondern verbrachte die meiste Zeit im Hinterzimmer, wo sie alle drei schliefen. Dort spielte er mit einem Kartenspiel.
Die Karten waren aus Papier, das zu Rechtecken geschnitten und dann zusammengeklebt worden war.
Sein Vater hatte es gebastelt, als Abschiedsgeschenk, bevor er sich auf den Weg nach Kiew gemacht hatte.
Andrej wartete immer noch darauf, dass er wieder nach Hause kam. Wann immer er seinen Vater vermisste, und das war oft, legte er die Karten auf dem Fußboden aus und sortierte sie nach Farben und Zahlen. Er war sich sicher, wenn er erst das ganze Spiel schaffte, dann würde sein Vater zurückkommen. Hatte er ihm nicht genau aus diesem Grund die Karten gegeben, bevor er aufgebrochen war? Natürlich hätte Andrej lieber mit seinem Bruder gespielt, aber Pavel hatte keine Zeit mehr für so was. Er war die ganze Zeit damit beschäftigt, der Mutter zu helfen, und spielte höchstens mal am Abend, bevor sie zu Bett gingen.
Pavel kam ins Zimmer. Andrej lächelte, weil er hoffte, dass sein Bruder Lust auf eine Runde hätte, aber der bückte sich nur und schob die Karten zusammen.
»Räum die weg. Wir gehen raus. Wo sind deine Laptys?«
Für Andrej war diese Frage ein Befehl. Gehorsam kroch er unters Bett und holte seine Laptys hervor: zwei aus einem Traktorreifen herausgeschnittene Gummistreifen und ein Bündel Lappen, die mit Schnur zusammengebunden wurden und so ein Paar behelfsmäßiger Stiefel abgaben. Pavel half ihm, sie fest zuzubinden, und erklärte ihm, dass sie heute Abend vielleicht Fleisch essen konnten, wenn Andrej nur genau das tat, was Pavel ihm sagte.
»Kommt Papa wieder?«
»Der kommt nicht mehr wieder.«
»Ist er vermisst?«
»Ja, er ist vermisst.«
»Und von wem kommt dann das Fleisch?«
»Das fangen wir uns selbst.«
Andrej wusste, dass sein Bruder ein geschickter Jäger war. Er hatte mehr Ratten gefangen als jeder andere Junge im Dorf. Und es war das erste Mal, dass er Andrej erlaubte, ihn auf eine solch wichtige Mission zu begleiten.
Draußen im Schnee passte er ganz besonders auf, dass er nicht hinfiel. Andrej stolperte und strauchelte oft, weil er die Welt nur als Schemen wahrnahm. Das Einzige, was er klar erkennen konnte, waren Sachen, die er sich ganz nah vors Gesicht hielt. Wenn andere in der Ferne etwas ausmachen konnten, wo er selbst nur irgendetwas Verschwommenes sah, dann schrieb er das ihrer Intelligenz oder Erfahrung oder einer anderen Fertigkeit zu, die er erst noch erlernen musste. Aber heute Abend würde er nicht hinfallen und sich nicht zum Narren machen. Er würde dafür sorgen, dass sein Bruder stolz auf ihn war. Das war ihm noch wichtiger als die Aussicht auf Fleisch.
Am Waldrand blieb Pavel stehen und bückte sich, um die Katzenspuren im Schnee zu untersuchen. Andrej fand diese Fähigkeit, Spuren zu finden, enorm. Ehrfürchtig kauerte auch er sich hin und beobachtete, wie sein Bruder einen der Pfotenabdrucke berührte. Er selbst hatte vom Spurenlesen und Jagen überhaupt keine Ahnung. »Ist die Katze hier vorbeigelaufen?«
Pavel nickte und spähte in den Wald. »Die Spuren sind nicht besonders tief.«
Dem Vorbild seines Bruders folgend, umkreiste Andrej mit dem Finger den Pfotenabdruck und fragte: »Und was bedeutet das?«
»Die Katze ist nicht schwer, das heißt, wenig zu essen für uns. Aber wenn sie Hunger hat, ist es auch wahrscheinlicher, dass sie den Köder annimmt.«
Andrej versuchte diese Information zu verarbeiten, aber seine Gedanken schweiften schon wieder ab. »Bruder, wenn du eine Spielkarte wärst, welche Karte wolltest du sein? As oder König?«
Pavel seufzte auf, und Andrej, den die Missbilligung seines Bruders verletzte, merkte, wie ihm die Tränen kamen.
»Wenn ich dir antworte, versprichst du mir dann, nicht mehr zu reden?«
»Versprochen.«
»Wir werden diese Katze nämlich nicht fangen, wenn du quasselst und sie verscheuchst.«
»Ich verspreche, dass ich den Mund halte.«
»Ich wäre ein Bube. Der mit dem Schwert. Also, du hast es versprochen – kein Wort mehr.«
Andrej nickte. Pavel stand auf. Sie betraten den Wald.
Sie waren lange gelaufen, Andrej kam es vor wie viele Stunden, obwohl sein Zeitgefühl nicht genauer war als sein Sehvermögen. Im Mondlicht und bei der hellen Schneedecke schien sein Bruder keine Schwierigkeiten zu haben, den Spuren zu folgen, die immer tiefer in den Wald hineinführten,
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