Kind 44
er hatte keine Wahl, schließlich war es seine Pflicht, und so ging er weiter. Aber seine Schritte schienen die Leichen wieder aufzuwecken. Das Eis begann zu schmelzen, der Fluss erwachte wieder zum Leben und begann zu fließen. Leo versank im Schneematsch und spürte die Gesichter unter seinen Stiefeln. Egal wie schnell er lief, sie waren überall, vor ihm, hinter ihm.
Eine Hand griff nach seinem Fuß, aber er schüttelte sie ab. Eine andere Hand umklammerte sein Fußgelenk, dann eine zweite und dritte, eine vierte. Leo schloss die Augen. Er wagte nicht herunterzusehen und rechnete damit, im nächsten Moment hinabgezogen zu werden.
Als er die Augen wieder aufmachte, stand er neben Raisa in einem trostlosen Büro. Sie trug ein blassrotes Kleid. Das Kleid hatte sie sich am Tag der Hochzeit von einer Freundin geliehen und in aller Eile enger gemacht. Im Haar trug sie eine einzelne weiße Blume, die sie im Park gepflückt hatten. Er selbst trug einen schlecht sitzenden grauen Anzug. Der Anzug gehörte ihm nicht, er hatte ihn von einem Kollegen geborgt. Sie waren in einem heruntergekommenen Büro in einem heruntergekommenen Regierungsgebäude, standen Seite an Seite vor einem Tisch, hinter dem ein Mann sich über Akten beugte. Raisa legte ihre Papiere vor, und dann warteten sie, bis er ihrer beider Identität überprüft hatte. Es gab kein Ehegelübde, keine Zeremonie und keinen Blumenstrauß. Auch keine Gäste, keine Tränen oder Gratulanten. Nur sie beide, in den besten Kleidern, die sie sich hatten besorgen können.
Bloß kein Tamtam. Tamtam war bourgeois. Der einzige Trauzeuge war dieser Beamte mit seinem schütteren Haar, der alles in ein dickes, zerfleddertes Registerbuch eintrug. Als der Papierkram erledigt war, händigte man ihnen die Heiratsurkunde aus. Sie waren nun Mann und Frau.
Jetzt war Leo wieder in der ehemaligen Wohnung seiner Eltern, wo sie damals ihre Hochzeit gefeiert hatten.
Freunde und Nachbarn waren gekommen, die darauf aus waren, ihre Gastfreundschaft auszunutzen. Ältere Männer sangen ihm unbekannte Lieder. Aber irgendwas an seiner Erinnerung stimmte nicht. Plötzlich schauten ihn gefühllose, harte Gesichter an. Das war ja Fjodors Familie! Während Leo noch tanzte, war die Hochzeitsfeier zu einer Beerdigung geworden. Alle starrten ihn an. Dann klopfte jemand von draußen an die Fensterscheibe. Leo drehte sich um und erkannte die Umrisse eines Mannes. Er ging auf ihn zu und wischte das Kondenswasser von den Scheiben. Es war Michail Swjatoslawitsch Zinowjew. Eine Kugel im Kopf, den Kiefer zerschmettert und den Schädel eingeschlagen. Leo wich zurück, wandte sich um. Das Zimmer war vollkommen leer bis auf zwei kleine Mädchen.
Zinowjews Töchter, bekleidet mit verdreckten Lumpen.
Waisen mit aufgedunsenen Bäuchen und von Wundblasen übersäter Haut. In ihrer Kleidung, ihren Augenbrauen und ihrem stumpfen Haar hatten sich Läuse eingenistet. Leo schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Plötzlich war ihm eiskalt. Er öffnete die Augen und merkte, dass er unter Wasser war und in die Tiefe sank.
Über ihm war Eis. Er versuchte nach oben zu schwimmen, aber die Strömung zog ihn hinab. Auf dem Eis waren Menschen, die zusahen, wie er ertrank. Ein stechender Schmerz brannte in seiner Lunge. Er konnte den Atem nicht länger anhalten und öffnete den Mund.
***
Leo schnappte nach Luft und riss die Augen auf. Neben ihm saß Raisa und versuchte ihn zu beruhigen. Verwirrt blickte er sich um, noch halb in seiner Traumwelt. Aber das hier war echt. Er befand sich wieder in seiner Wohnung und in der Wirklichkeit. Erleichtert ergriff er Raisas Hand und flüsterte haspelnd auf sie ein.
»Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal getroffen haben? Du fandest mich unhöflich, weil ich dich angestiert hatte. Ich bin sogar an der falschen Metro-Station ausgestiegen, nur um dich nach deinem Namen zu fragen. Aber du wolltest ihn mir nicht sagen. Und als ich nicht gehen wollte, bis ich ihn wusste, hast du einfach gelogen und mir gesagt, du hießest Lena. Eine ganze Woche lang konnte ich über nichts anderes reden als diese wunderschöne Frau, die Lena hieß. Allen habe ich erzählt, wie schön Lena ist. Als ich dich dann endlich wiedergetroffen und dich überredet habe, mit mir spazieren zu gehen, habe ich dich die ganze Zeit Lena genannt. Am Ende des Spaziergangs war ich so weit, dich zu küssen, und du immerhin so weit, mir deinen richtigen Namen zu verraten. Am nächsten Tag habe ich jedem erzählt, was
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