Kind 44
wir die Geschichte natürlich fortsetzen. Wir könnten ein Arrangement treffen. Du würdest alles bekommen, was du willst. Im Rahmen des Möglichen, versteht sich. Der entscheidende Punkt ist: Niemand braucht etwas zu erfahren.«
»Und wenn ich nein sage?«
»Dann würde ich behaupten, dass dein Mann ein Lügner ist und sich aus mir unerfindlichen Gründen unbedingt vor der Arbeit drücken wollte. Ich würde empfehlen, dass man ihn überprüft.«
»Sie würden Ihnen nicht glauben.«
»Bist du dir da sicher? Sie haben doch schon Verdacht geschöpft. Alles, was es noch braucht, ist ein kleiner Schubs von mir.«
Weil er ihr Schweigen als Zustimmung interpretierte, ging er zu ihr und legte versuchsweise eine Hand auf ihr Bein. Sie rührte sich nicht. Warum sie nicht gleich hier in der Küche nehmen? Niemand würde etwas erfahren. Ihr Mann würde nicht aufwachen. Sie konnte vor Wonne schreien, konnte so viel Radau machen, wie sie wollte.
Angewidert und unsicher, wie sie sich verhalten sollte, schaute Raisa verstohlen zur Seite.
Zarubins Hand glitt an ihrem Bein hinab. »Keine Sorge, dein Mann schläft tief und fest. Der stört uns nicht.
Und wir stören ihn auch nicht.«
Seine Hand wanderte unter ihren Rock. »Vielleicht gefällt es dir ja sogar. Es hat viele Frauen gegeben, denen hat es gefallen.«
Er war so nah, dass sie seinen Atem riechen konnte. Er lehnte sich vor, öffnete die Lippen, seine gelblichen Zähne kamen näher, als sei sie ein Apfel, in den er sogleich hineinbeißen würde. Sie drückte sich an ihm vorbei. Er griff nach ihrem Handgelenk.
»Zehn Minuten sind doch nun wirklich kein zu hoher Preis für das Leben deines Mannes. Tu es für ihn.« Er zog sie zu sich heran, sein Griff wurde fester.
Plötzlich ließ er sie los und hob die Hände. Raisa hielt ihm ein Messer an den Hals. »Wenn Sie sich über den Zustand meines Mannes nicht im Klaren sind, informieren Sie bitte unseren guten Freund Generalmajor Kuzmin, dass er einen anderen Arzt schicken soll. Eine zweite Meinung käme uns sehr gelegen.«
Die beiden umschlichen einander, das Messer war immer noch an Zarubins Kehle. Schließlich trat er den Rückzug aus der Küche an. Sie blieb im Türrahmen stehen und hielt das Messer in halber Höhe.
Der Doktor griff nach seinem Mantel und zog ihn ohne Hast an. Dann nahm er seine Tasche, öffnete die Wohnungstür und blinzelte, um seine Augen an die gleißende Wintersonne zu gewöhnen. »Nur Kinder glauben noch an Freundschaft. Und von denen auch nur die dummen.«
Raisa machte einen Satz vor, griff nach seiner Mütze, die noch am Garderobenhaken hing, und schleuderte sie ihm vor die Füße. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, knallte sie die Tür zu.
Ihr zitterten die Hände. Sie hörte, wie er sich entfernte und hielt immer noch das Messer in der Hand. Vielleicht hatte sie ihm einen Grund gegeben zu glauben, dass sie mit ihm schlafen würde? Sie ließ die Ereignisse noch einmal vor ihrem geistigen Auge ablaufen: Sie hatte die Tür geöffnet, über seinen dämlichen Witz gelacht, ihm den Mantel abgenommen, ihm Tee gemacht.
Raisa schüttelte den Kopf. Zarubin hatte sich von einem Wunschtraum hinreißen lassen. Dagegen hätte sie gar nichts machen können.
Aber vielleicht wäre es besser gewesen, ein bisschen mit ihm zu flirten und so zu tun, als ob sein Vorschlag für sie eine Versuchung sei. Vielleicht hätte dieser alte Schwachkopf ja nur das Gefühl gebraucht, dass sein Vorschlag ihr schmeichelte. Raisa fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Das hatte sie vermasselt. Sie waren in Gefahr.
Sie betrat das Schlafzimmer und setzte sich zu Leo.
Seine Lippen bewegten sich, als sei er in einem stillen Gebet. Sie lehnte sich vor und versuchte, seinen Worten einen Sinn zu entnehmen. Sie waren kaum zu hören, nur Wortfetzen, die nicht zusammenpassten.
Leo war im Delirium. Er griff nach ihrer Hand. Seine Haut war feucht. Sie zog die Hand weg und blies die Kerze aus.
***
Leo stand im Schnee, vor ihm war der Fluss. Anatoli Brodsky war schon auf der anderen Seite. Er hatte es hinübergeschafft und beinahe schon den sicheren Wald erreicht. Leo machte einen Schritt aufs Eis, aber im nächsten Augenblick sah er, dass unter seinen Füßen, eingeschlossen unter einer dicken Eisschicht, all die Männer und Frauen waren, die er je verhaftet hatte.
Der ganze Fluss war voll von ihren gefrorenen Leichen.
Wenn er in den Wald gelangen und diesen Mann fassen wollte, dann musste er über sie drüberlaufen. Aber
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