Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
für eine tolle Frau diese Raisa ist, und alle haben mich ausgelacht und gesagt, letzte Woche war es Lena, diese Woche ist es Raisa, und nächste Woche ist es wieder eine andere. Aber so war es gar nicht. Es warst immer nur du.«
    Raisa hörte ihrem Mann zu und wunderte sich über seine Sentimentalität. Wo kam die denn plötzlich her?
    Vielleicht wurde man gefühlsduselig, wenn man krank war. Sie schob ihn zurück in die Kissen, und bald darauf war er wieder eingeschlafen. Es war jetzt fast zwölf Stunden her, seit Zarubin gegangen war. Ein gekränkter, eitler alter Mann war zu einem gefährlichen Feind geworden. Um sich auf andere Gedanken zu bringen, kochte sie eine Suppe. Nicht nur einen Gemüsesud mit ausgekochten Hühnerknochen, sondern eine fette Hühnerbrühe mit richtigen Fleischstücken. Sie köchelte vor sich hin und würde bereitstehen, wenn Leo wieder etwas zu sich nehmen konnte. Raisa rührte die Suppe durch und nahm sich selbst eine Schale voll. Im nächsten Moment klopfte es an der Wohnungstür. Es war schon spät, und Raisa erwartete keine Besucher mehr.
    Sie nahm das Messer von der Anrichte und verbarg es hinter ihrem Rücken, bevor sie an die Tür ging. »Wer ist da?«
    »Ich bin’s, Generalmajor Kuzmin.«
    Mit zitternden Händen öffnete sie die Tür.
    Generalmajor Kuzmin war in Begleitung seiner Eskorte da, zwei jungen, hart aussehenden Soldaten. »Doktor Zarubin hat mit mir gesprochen.«
    »Aber bitte, machen Sie sich doch selbst ein Bild von Leo.«
    Das war ihr einfach herausgeplatzt, und Kuzmin schien überrascht zu sein. »Nein, das wird nicht nötig sein.
    Ich möchte ihn nicht stören. In medizinischen Angelegenheiten verlasse ich mich ganz auf Doktor Zarubin.
    Und bitte halten Sie mich nicht für einen Feigling, aber ich habe Angst, mir seine Grippe einzufangen.«
    Raisa verstand nicht, was geschehen war. Offenbar hatte der Arzt die Wahrheit gesagt. Sie biss sich auf die Lippe und versuchte ihre Erleichterung nicht preiszugeben.
    Kuzmin fuhr fort. »Ich habe mit Ihrer Schule gesprochen und Bescheid gesagt, dass Sie Urlaub nehmen, um sich um Leos Genesung zu kümmern. Es ist wichtig, dass er bald wieder auf dem Damm ist. Er ist einer unserer besten Offiziere.«
    »Er kann sich glücklich schätzen, Kollegen zu haben, die sich so um ihn kümmern.«
    Mit einer flüchtigen Handbewegung tat Kuzmin die Bemerkung ab und gab dem neben ihm stehenden Beamten ein Zeichen. Der Mann hatte eine Papiertüte in der Hand. Jetzt trat er vor und hielt sie ihr hin. »Ein Geschenk von Doktor Zarubin. Mir müssen Sie also nicht danken.«
    Hinter ihrem Rücken hielt Raisa immer noch das Messer umklammert. Um das Geschenk anzunehmen, brauchte sie zwei freie Hände. Sie ließ das Messer in ihren Rock gleiten. Sobald es sicher verstaut war, streckte sie die Hände aus und übernahm die Tüte, die schwerer war, als sie gedacht hatte. »Möchten Sie nicht hereinkommen?«
    »Vielen Dank, aber es ist schon spät und ich bin müde.« Kuzmin wünschte Raisa eine gute Nacht.
    Sie schloss die Tür und ging zurück in die Küche, wo sie die Tüte auf den Tisch stellte und das Messer aus ihrem Rock zog. Dann machte sie die Tüte auf. Sie war voller Orangen und Zitronen, ein wahrer Luxus in einer Stadt, wo Nahrungsmittel immer knapp waren. Raisa schloss die Augen und stellte sich vor, wie Zarubin mit perverser Befriedigung ihr Gefühl der Dankbarkeit genoss. Nicht etwa für die Früchte, sondern dafür, dass er lediglich seine Arbeit gemacht und berichtet hatte, dass Leo wirklich krank war. Mit Sicherheit waren die Orangen und Zitronen seine Art, ihr zu sagen, dass sie in seiner Schuld stand. Er hätte sie beide auch genauso gut verhaften lassen können. Raisa leerte die Tüte in den Mülleimer. Dann betrachtete sie die leuchtenden Farben der Früchte und holte jede einzelne wieder heraus. Sie würde seine Geschenke aufessen. Aber weinen würde sie auf keinen Fall.

19. Februar
    Es war das erste Mal in vier Jahren gewesen, dass Leo unvorhergesehen bei der Arbeit gefehlt hatte. Es gab sogar eine eigene Sorte von Gulag-Insassen, die wegen Vergehen gegen das Arbeitsethos verurteilt worden waren. Leute, die sich unangemessen lange vom Arbeitsplatz entfernt hatten oder eine halbe Stunde zu spät zu ihrer Schicht erschienen waren. Es war erheblich sicherer, zur Arbeit zu gehen und dort auf dem Fabrikboden zusammenzubrechen, als vorbeugend zu Hause zu bleiben. Die Entscheidung, ob er arbeiten konnte oder nicht, lag nie beim

Weitere Kostenlose Bücher