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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Gerüchen von dem, was unten gerade gekocht wurde: gesottene Innereien, Knorpel und Schmalz.
    Basarow war über Leos Erscheinen nicht gerade erbaut.
    Dieses Zimmer, diese Betten, waren von seinem »Personal« benutzt worden, womit er die Frauen meinte, die seine Gäste bearbeitet hatten. Dennoch konnte er die Bitte nicht abschlagen. Schließlich gehörte ihm das Haus nicht, und wenn der Laden laufen sollte, war er auf den guten Willen der Miliz angewiesen. Sie wussten, dass er Gewinn machte, und hatten auch nichts dagegen, solange sie ihren Anteil abkriegten. Nichts war deklariert, alles inoffiziell – ein geschlossener Kreislauf. Ehrlich gesagt machten diese neuen Gäste ihn ein bisschen nervös. Die waren vom MGB, hieß es. Das hielt ihn davon ab, so grob zu werden, wie es sonst seine Art war. Er wies den Flur hinunter zu einer halb offenstehenden Tür. »Da ist das Klo. Wir haben eins im Haus.«
    Raisa versuchte das Fenster zu öffnen, aber es war zugenagelt, als ob man jemanden daran hindern wollte hinauszuspringen. Sie starrte hinaus: nur Bruchbu den und schmutziger Schnee. Das war also ihr neues Zuhause.
    Leo war plötzlich müde. Solange seine Erniedrigung nur eine Vorstellung gewesen war, hatte er sie ertragen, aber jetzt hatte sie konkrete Formen angenommen: dieses Zimmer. Er wollte nur noch schlafen, die Augen zumachen und die Welt aussperren. Aber er musste ja wieder nach draußen. Also stellte er seinen Koffer aufs Bett und vermied es, Raisa anzuschauen, nicht aus Wut, sondern aus Scham. Ohne ein Wort verließ er das Zimmer.
    ***
    Sie fuhren mit ihm zum Fernsprechamt und brachten ihn hinein. In einer Schlange warteten ein paar hundert Menschen auf die ihnen zugeteilte Sprechzeit, jeweils nur ein paar Minuten. Da man die meisten dieser Leute gezwungen hatte, ihre Familien zurückzulassen und in dieser Stadt zu arbeiten, konnte Leo nachvollziehen, wie wertvoll ihnen diese wenigen Minuten waren.
    Nesterow allerdings hatte es nicht nötig, sich anzustellen, er marschierte direkt auf eine der Zellen zu.
    Nachdem er die Verbindung hergestellt und einige Zeit mit jemandem gesprochen hatte, ohne dass Leo etwas hätte verstehen können, reichte Nesterow ihm den Hörer. Leo hielt ihn sich ans Ohr und wartete.
    »Wie ist die Unterbringung?« Es war Wassili. Er fuhr fort: »Du würdest am liebsten auflegen, stimmt’s? Aber das kannst du nicht. Noch nicht mal das kannst du.«
    »Was willst du?«
    »Ich will in Verbindung bleiben, damit du mir von deinem Leben da drüben berichten kannst und ich dir von meinem hier. Ehe ich es vergesse: Die Wohnung, die du deinen Eltern besorgt hattest, ist ihnen wieder weggenommen worden. Wir haben etwas für sie gefunden, was ihrem Status angemessener ist. Ist vielleicht ein bisschen kalt und beengt. Und bestimmt schmutzig.
    Sie wohnen jetzt mit einer siebenköpfigen Familie zusammen, glaube ich. Fünf kleine Kinder. Übrigens habe ich überhaupt nicht gewusst, dass dein Vater so schrecklich unter Rückenschmerzen leidet. Zu dumm, dass er jetzt ein Jahr vor der Rente wieder zurück ans Fließband musste. Ein Jahr kann einem schnell wie zehn vorkommen, wenn einem die Arbeit keinen Spaß macht. Aber das wirst du sicher bald selbst merken.«
    »Meine Eltern sind gute Leute. Sie haben ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet. Sie haben niemandem etwas getan.«
    »Aber ich lasse sie trotzdem bluten.«
    »Was willst du von mir?«
    »Ich will, dass du dich entschuldigst.«
    »Wassili, es tut mir leid.«
    »Du weißt ja noch nicht mal, wofür du dich entschuldigen sollst.«
    »Ich habe dich schlecht behandelt. Und das tut mir leid.«
    »Was tut dir leid? Ein bisschen genauer bitte. Deine Eltern sind schließlich auf dich angewiesen.«
    »Ich hätte dich nicht schlagen sollen.«
    »Du gibst dir nicht genügend Mühe. Versuch mich zu überzeugen.« Leo war verzweifelt, seine Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, was du noch von mir willst. Du hast alles. Ich habe nichts.«
    »Ganz einfach. Ich will, dass du bettelst.«
    »Ich bettele ja, Wassili, hör dir doch meine Stimme an.
    Ich bitte dich. Lass meine Eltern zufrieden. Bitte ... «
    Wassili hatte eingehängt.

Wualsk
17. März
    Nachdem er die ganze Nacht gelaufen war, mit Blasen an den Füßen und blutdurchtränkten Strümpfen, setzte sich Leo auf eine Parkbank, verbarg den Kopf in den Händen und weinte.
    Er hatte weder geschlafen noch etwas gegessen. Als Raisa am vergangenen Abend mit ihm hatte reden wollen, hatte er sie nicht beachtet, und

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