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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Und für Wassili war es ja auch nichts anderes, ein Spiel, und jeder Spielstein stand stellvertretend für Leid. Nicht Wassili hatte seine Frau geschlagen und ihr wehgetan, das hatte Leo selbst besorgt und den Plan dieses Mannes bis aufs i-Tüpfelchen ausgeführt.
    Sie waren da. Der Wagen hielt. Nesterow war schon ausgestiegen und wartete auf ihn. Leo hatte keine Ahnung, wie lange er so dagesessen hatte. Er öffnete die Tür, stieg aus und folgte seinem Vorgesetzten ins Hauptquartier der Miliz, um den ersten Tag seines Dienstes anzutreten. Er wurde Mitarbeitern vorgestellt, schüttelte Hände, nickte, bestätigte, konnte sich aber überhaupt nichts merken. Weder Namen noch irgendwelche Einzelheiten. Sie gingen ihm zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, und erst, als er allein im Umkleideraum saß und vor sich seine Uniform sah, konnte er sich wieder auf die Gegenwart konzentrieren. Er zog seine Schuhe aus, streifte vorsichtig die schwarzen Strümpfe von den blutigen Zehen, hielt die Füße unter kaltes Wasser und sah zu, wie es sich rot färbte. Weil er keine anderen Strümpfe bei sich hatte und es auch nicht über sich bringen konnte, nach welchen zu fragen, zog er gezwungenermaßen die alten wieder an und zuckte vor Schmerz zusammen, als der Stoff über die offenen Blasen glitt. Dann zog er sich aus, legte seine Zivilkleider übereinander auf den Boden seines Spinds und knöpfte sich die neue Uniform zu, derbe Hosen mit roten Streifen und eine schwere, militärisch wirkende Jacke. Leo begutachtete sich im Spiegel. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und eine nässende Wunde auf der linken Wange. Er untersuchte die Abzeichen an seiner Uniformjacke. Er war ein Uschastkowje. Ein Nichts.
    Die Wände in Nesterows Büro waren mit gerahmten Urkunden vollgehängt. Leo musterte sie von links nach rechts und erfuhr, dass sein Chef Amateurringkämpfe und Schützenturniere gewonnen hatte und mehrere Male zum »Offizier des Monats« ernannt worden war, sowohl hier als auch in seinem früheren Wohnort Rostow. Es war eine ziemlich prahlerische Zurschaustellung, aber verständlich, wenn man bedachte, wie wenig Achtung seine Position mit sich brachte.
    Nesterow musterte seinen neuen Rekruten, konnte sich aber keinen Reim auf ihn machen. Warum war dieser Mann, ein ehemaliger hochrangiger Offizier des MGB und dekorierter Kriegsheld, in einem derartigen Zustand? Schmutzige Fingernägel, ein blutiges Gesicht, ungewaschene Haare, nach Alkohol stinkend und ganz offensichtlich seiner Degradierung gegenüber vollkommen gleichgültig. Vielleicht war er genauso, wie man ihn beschrieben hatte: hoffnungslos inkompetent und jeder Verantwortung unwürdig. Sein äußeres Erscheinungsbild passte jedenfalls dazu. Aber Nesterow traute dem Braten nicht. Vielleicht war der derangierte Zustand ja ein Trick. Seit dem Moment, als er von der Versetzung erfahren hatte, hatte er ein ungutes Gefühl gehabt. Dieser Mann war in der Lage, ihm und seinen Leuten maßlosen Schaden zuzufügen. Ein ungnädiger Bericht, das reichte schon. Nesterow war zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste war, den Mann zu beobachten, auf die Probe zu stellen und in seiner Nähe zu halten. Irgendwann würde Demidow die Karten schon auf den Tisch legen.
    Nesterow gab Leo eine Akte. Der glotzte sie einige Sekunden lang an und versuchte herauszubekommen, was man von ihm erwartete. Warum gab man ausgerechnet ihm das? Worum auch immer es gehen mochte, ihm war es schnuppe. Er seufzte und zwang sich dazu, die Akte zu studieren. Als er sie aufschlug, sah er mehrere Schwarzweißfotos von einem jungen Mädchen. Sie lag auf dem Rücken und war von schwarzem Schnee umgeben. Schwarzem Schnee? Ach so, schwarz, weil er blutdurchtränkt war. Es sah so aus, als ob das Mädchen schreien würde, aber als Leo näher hinsah, erkannte er, dass sie etwas im Mund hatte.
    Nesterow klärte ihn auf. »Man hat ihr den Mund mit Erde vollgestopft. Damit sie nicht um Hilfe schreien konnte.«
    Leos Finger krampften sich um die Fotografie. All seine Gedanken über Raisa, über seine Eltern, sich selbst – alles wie weggeblasen. Leo konzentrierte sich nur noch auf den Mund des Mädchens. Er stand weit offen und war mit Erde vollgestopft. Leo sah sich das nächste Foto an. Das Mädchen war nackt. An den unversehrten Stellen war ihre Haut so weiß wie Schnee. Aber ihr Bauch war übel zugerichtet, aufgeschlitzt. Leo blätterte zum nächsten Foto, blätterte weiter und weiter. Aber was er sah, war

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