Kind 44
dass das möglicherweise ein wertvoller Vorteil war.
Nesterow trug ihre Koffer so mühelos zum Wagen, als seien sie leer. Er lud sie in den Kofferraum und hielt ihnen dann die Hintertür auf. Im Wagen nahm Leo seinen neuen Vorgesetzten in Augenschein, der sich gerade auf den Beifahrersitz klemmte. Der Mann war einfach zu groß, selbst für so ein stattliches Auto. Die Knie reichten ihm fast bis unters Kinn. Auf dem Fahrersitz neben ihm saß ein junger Kerl. Nesterow machte sich nicht die Mühe, ihn vorzustellen. Ähnlich wie beim MGB hatte jedes Fahrzeug einen eigenen Fahrer, der dafür verantwortlich war. Die Beamten bekamen keinen eigenen Wagen und saßen auch nicht selbst am Steuer. Der Fahrer legte den Gang ein und fuhr auf eine leere Straße hinaus. Kein anderer Wagen war in Sicht.
Nesterow ließ sich Zeit. Wahrscheinlich wollte er nicht den Eindruck erwecken, seinen neuen Rekruten ausfragen zu wollen. Schließlich sah er Leo durch den Rückspiegel an und bemerkte: »Vor drei Tagen wurde uns mitgeteilt, dass Sie herkommen. Eine ungewöhnliche Versetzung.«
»Wir müssen hingehen, wo wir gebraucht werden.«
»Hierhin ist schon seit geraumer Zeit keiner mehr versetzt worden. Und ich wüsste nicht, dass ich einen zusätzlichen Mann angefordert hätte.«
»Die Produktionsleistung der Fabrik genießt offiziell hohe Priorität. Man kann gar nicht genug Leute haben, um die Sicherheit der Stadt zu gewährleisten.«
Raisa wandte sich zu ihrem Mann um. Vermutlich waren seine hintergründigen Antworten Absicht. Selbst jetzt, wo er degradiert und aus dem MGB geworfen worden war, machte er sich noch die Angst zunutze, die der Geheimdienst auslöste. In ihrer heiklen Situation war das vielleicht nicht einmal so dumm.
Nesterow fragte: »Klären Sie mich auf. Sollen Sie als Syschtschik anfangen? Als Kommissar? Die Anweisungen aus Moskau haben uns etwas verwirrt. Da hieß es nämlich, Sie sollen als Uschastkowje anfangen. Für einen Mann mit Ihrem Status bedeutet das eine erhebliche Herabstufung in seinen Verantwortlichkeiten.«
»Mein Befehl besagt, dass ich Ihnen unterstellt bin. In welchen Dienstgrad Sie mich einstufen, liegt in Ihren Händen.«
Schweigen. Vermutlich passte es dem General nicht, dachte Raisa, dass man die Frage wieder an ihn zurückdelegierte. Hörbar übellaunig raunzte er: »Fürs Erste wohnen Sie in der Pension. Sobald eine freie Wohnung zur Verfügung steht, wird sie Ihnen zugewiesen. Ich sollte Sie aber vorwarnen, dass es eine lange Warteliste gibt. Und da kann ich auch nichts deichseln. Bei der Miliz zu sein bringt einem nicht gerade Vorteile.«
Der Wagen hielt vor einem Haus, das aussah wie ein Restaurant. Nesterow machte den Kofferraum auf, holte die Koffer heraus und stellte sie auf den Bürgersteig. Leo und Raisa blieben stehen und warteten auf Anweisungen.
An Leo gewandt sagte Nesterow: »Wenn Sie Ihre Koffer auf Ihr Zimmer gebracht haben, kommen Sie bitte wieder zum Wagen. Ihre Frau kann dableiben.«
Raisa unterdrückte den Ärger darüber, dass man über sie sprach, als sei sie Luft. Sie sah zu, wie Leo Nesterows Beispiel folgte und beide Koffer auf einmal nahm.
Seine Protzerei erstaunte sie, aber sie würde ihn jetzt nicht in Verlegenheit bringen. Sollte er sich doch mit ihrem Koffer abschleppen, wenn er darauf bestand. Leo ging voraus, drückte die Tür auf und betrat das Restaurant.
Drinnen war es dunkel. Die Fensterläden waren zu und es stank nach kaltem Rauch. Auf den Tischen standen überall noch die schmutzigen Gläser vom Vorabend.
Leo setzte die Koffer ab und klopfte auf eine der schmierigen Tischplatten.
In der Tür erschien die Silhouette eines Mannes. »Wir haben geschlossen.«
»Mein Name ist Leo Demidow. Das hier ist meine Frau Raisa. Wir sind gerade aus Moskau angekommen.«
»Danil Basarow.«
»General Nesterow hat mir gesagt, dass Sie uns unterbringen können.«
»Reden Sie von dem Zimmer im Obergeschoss?«
»Ich weiß nicht ... ja, ich glaube schon.«
Basarow kratzte sich die Speckrollen an seinem Bauch.
»Dann zeige ich Ihnen mal Ihr Zimmer.«
Das Zimmer war klein. Man hatte zwei Einzelbetten zusammengeschoben, dazwischen war eine Besucherritze. Beide Matratzen hingen durch. Die Tapete warf Blasen wie die Haut eines Jünglings und war von einer klebrigen Fettschicht bedeckt. Wahrscheinlich Kochdünste, vermutete Leo, denn das Zimmer lag direkt über der Küche, man konnte sie durch die Ritzen in den Dielen sehen, und sie belüftete das Zimmer mit den
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