Kind 44
Handfläche auf. Als sei ein böser Zauber von ihm abgefallen, ließ er sie los. Raisa wich zurück, hustete und hielt sich den Hals. Sie starrten einander an wie Fremde, als sei ihre ganze gemeinsame Geschichte in diesem einen, kurzen Moment ausgelöscht worden. In Leos Wange steckte ein Glassplitter. Er befühlte sie, zog ihn heraus und untersuchte ihn auf seiner Handfläche. Ohne sich noch einmal umzuwenden, drängte sich Raisa an ihm vorbei zur Treppe und rannte nach oben. Er blieb zurück.
Anstatt seiner Frau zu folgen, kippte Leo das Glas hinunter, das er sich schon eingegossen hatte, dann goss er sich noch eins ein, und noch eins, und als er irgendwann draußen Nesterows Wagen vorfahren hörte, hatte er die Flasche fast leergetrunken. Unsicher auf den Beinen, ungewaschen und unrasiert, betrunken, stumpfsinnig und von sinnloser Gewalttätigkeit – er hatte nicht einmal einen Tag gebraucht, um auf das Niveau herabzusinken, das man von der Miliz gewohnt war.
Den Schnitt in Leos Gesicht erwähnte Nesterow auf der Fahrt mit keiner Silbe. Stattdessen sprach er in knappen Sätzen über die Stadt. Leo hörte nicht zu, nahm kaum seine Umgebung wahr, so sehr beschäftigte ihn das, was er gerade getan hatte. Hatte er tatsächlich versucht, die eigene Frau zu erwürgen, oder spielte ihm sein übernächtigtes Hirn einen Streich? Er befühlte seine Wange und sah Blut auf den Fingerspitzen. Es stimmte also, er hatte es getan. Noch ein paar Sekunden länger, ein bisschen fester zugedrückt, und sie wäre jetzt tot. Was ihn dazu provoziert hatte, war die Tatsache, dass er alles geopfert hatte, seine Eltern, seine Karriere, und nur, weil man ihm etwas vorgegaukelt hatte. Den Traum von einer Familie. Die Vorstellung, dass es zwischen ihnen ein Band gab. Sie hatte ihn ausgetrickst, mit gezinkten Karten gespielt, um ihn in eine Entscheidung hineinzumanövrieren. Erst als sie in Sicherheit war und seine Eltern leiden mussten, hatte sie zugegeben, dass ihre Schwangerschaft erstunken und erlogen war. Mehr noch, sie hatte ihm ins Gesicht gesagt, wie sehr sie ihn verabscheute. Erst hatte sie seine Gutherzigkeit ausgenutzt und ihm dann ins Gesicht gespuckt. Was hatte er als Dank für sein Opfer bekommen, dafür, dass er eindeutiges Belastungsmaterial wissentlich übersehen hatte? Gar nichts.
Aber er glaubte ja selbst nicht, was er da dachte. Er musste mit seiner Selbstgerechtigkeit aufhören. Was er getan hatte, war unverzeihlich. Und sie hatte doch allen Grund, ihn zu verachten. Wie viele Brüder und Schwestern, Mütter und Väter hatte er verhaftet? Was unterschied ihn denn überhaupt von Wassili Nikitin, dem Mann, den er als seinen moralischen Widerpart hinstellte? War wirklich der einzige Unterschied der, dass Wassili willkürlich grausam war, während er selbst es aus idealistischen Gründen war?
Die eine Grausamkeit war leer und gleichgültig, die andere war prinzipientreu und anmaßend, eine Grausamkeit, die sich selbst für vernünftig und notwendig hielt.
Hatte es ihm einfach an Vorstellungskraft gefehlt zu erkennen, auf was er sich da eingelassen hatte? Schlimmer noch, hatte er es sich vielleicht gar nicht vorstellen wollen? Leo verbot sich diese Gedanken, schob sie beiseite.
Aus dem Schutt all seiner moralischen Gewissheiten ragte nur noch eine Tatsache hervor: Erst hatte er für Raisa sein Leben weggeworfen, nur um anschließend zu versuchen, sie umzubringen. Das war doch verrückt!
Jetzt hatte er gar nichts mehr, nicht einmal die Frau, die er geheiratet hatte. Gern hätte er gesagt, die Frau, die er liebte. Liebte er sie? Er hatte sie doch geheiratet, war das nicht dasselbe? Nein, wohl nicht. Er hatte sie geheiratet, weil sie so schön und intelligent und er so stolz war, sie an seiner Seite zu haben. So stolz, sie zur Seinen zu machen. Es war ein weiterer Schritt auf dem Weg zum perfekten sowjetischen Leben gewesen: Arbeit, Familie, Kinder. In vielerlei Hinsicht war sie nur ein Symbol gewesen, ein Rädchen im Getriebe seines Ehrgeizes, der notwendige häusliche Hafen für die erfolgreiche Karriere und den Status als vorbildlicher Bürger. Hatte Wassili vielleicht recht gehabt mit seinen Worten, er könne sie doch einfach gegen eine andere austauschen? Im Zug hatte Leo von ihr verlangt, ihm ihre Liebe zu erklären, ihn zu trösten, ihn mit einem romantischen Märchen zu belohnen, in dem er den Helden spielte. Es war erbärmlich. Leo seufzte laut auf und rieb sich die Stirn. Er hatte sich an die Wand spielen lassen.
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