Kind 44
das Essen, das sie ihm aus dem Restaurant heraufgeholt hatte, hatte er nicht angerührt. Er hatte es in diesem winzigen, stinkenden Zimmer einfach nicht mehr ausgehalten, also war er runtergegangen, hatte sich mit den Ellenbogen seinen Weg durch die Menge gebahnt und war nach draußen verschwunden. Ohne Orientierung war er einfach losgelaufen, zu entmutigt und aufgebracht, um einfach nur ruhig und untätig dazusitzen, obwohl er begriff, dass genau das seine Zwickmühle war. Er konnte gar nichts machen.
Noch einmal widerfuhr ihm eine Ungerechtigkeit, aber diesmal war er gänzlich machtlos. Man würde seine Eltern nicht einfach in den Hinterkopf schießen, das wäre zu schnell gewesen, beinahe wie ein Gnadenakt. Nein, man würde sie nach und nach fertigmachen. Leo konnte sich gut vorstellen, was einem systematisch vorgehenden, sadistischen Kleingeist so alles einfiel.
Erst einmal würde man seine Eltern in der Fabrik zurückstufen und ihnen die schwersten, schmutzigsten Arbeiten zuweisen. Arbeiten, mit denen sogar ein junger und starker Mensch zu kämpfen gehabt hätte. Man würde sie mit Geschichten über Leos bemitleidenswertes Schicksal, seine Schande und seine Erniedrigung quälen. Wahrscheinlich hatte man ihnen sogar erzählt, dass er in einem Gulag stecke, zu zwanzig Jahren Katorga verurteilt, Schwerstarbeit.
Was die Familie betraf, mit der seine Eltern nun ihre Wohnung teilen mussten, konnte man sicher sein, dass es äußerst widerwärtige Störenfriede waren. Den Kindern wurde Schokolade versprochen, wenn sie nur gehörig Lärm machten, und den Eltern eine eigene Wohnung, wenn sie Essen stahlen, Streit anfingen und den anderen nach Möglichkeit das Leben zur Hölle machten. Die Einzelheiten wollte Leo sich lieber gar nicht vorstellen. Wassili würde sie ihm schon mit Freuden berichten, in der sicheren Gewissheit, dass Leo nicht einhängen würde, weil er Angst hatte, dass es seine Eltern danach nur umso schlimmer träfe. Aus der Ferne würde Wassili ihn zerbrechen, systematisch den Hebel da ansetzen, wo er am verwundbarsten war – bei seiner Familie. Wehren konnte Leo sich nicht. Es würde sicher nicht allzu schwer sein, die Adresse seiner Eltern herauszubekommen, aber wenn seine Briefe nicht ohnehin abgefangen und verbrannt wurden, konnte er ihnen wenig mehr mitteilen, als dass er in Sicherheit war. Er hatte ihnen ein angenehmes Leben verschafft, nur um jetzt zu erleben, dass es ihnen wieder entrissen wurde.
Und das zu einem Zeitpunkt, wo sie mit den Veränderungen am wenigsten fertig werden würden.
Raisa saß unten an einem Tisch. Sie hatte die ganze Nacht auf ihn gewartet. Genau wie Wassili vorhergesagt hatte, wusste sie, dass Leo inzwischen seine Entscheidung bedauerte, sie nicht denunziert zu haben.
Der Preis dafür war zu hoch. Aber was hätte sie denn machen sollen? So tun, als ob er alles für die perfekte Liebe geopfert hatte? So etwas ließ sich doch nicht einfach herbeizaubern. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte gar nicht gewusst, wie. Was sagte man da, wie verhielt man sich? Vielleicht hätte sie es ihm ein bisschen schonender beibringen können. Tatsächlich hatte sie seine Degradierung heimlich genossen. Nicht aus Boshaftigkeit oder Rachsucht, sondern weil sie wollte, dass er es begriff: So habe ich mich jeden Tag gefühlt. So fühlten sich die meisten Leute jeden Tag: machtlos und verängstigt. Sie wollte, dass er das nachempfand, dass er es am eigenen Leib zu spüren bekam.
Als Leo das Restaurant betrat, blickte Raisa erschöpft und mit schweren Lidern hoch. Sie stand auf, ging zu ihm und sah seine blutunterlaufenen Augen. Sie hatte ihn noch nie weinen sehen. Er wandte sich ab und goss sich aus der nächstbesten Flasche etwas zu trinken ein.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dann passierte alles im Bruchteil einer Sekunde. Leo wirbelte herum, packte sie am Hals und drückte zu. »Du hast mir das eingebrockt!«
Er presste ihr die Adern ab, ihr Gesicht lief hochrot an.
Sie bekam keine Luft mehr, röchelte. Leo riss sie hoch, bis sie auf Zehenspitzen stand. Sie nestelte an seinen Händen, aber er ließ nicht los und sie konnte sich nicht befreien.
Sie tastete auf einem Tisch herum, versuchte ein Glas zu fassen zu bekommen, ihre Sicht war bereits getrübt.
Ihre Finger berührten ein Glas und warfen es um, aber es fiel so, dass sie es erreichen konnte. Sie ergriff es, holte aus und schlug es Leo ins Gesicht. Das Glas zersplitterte in ihrer Hand und schnitt ihr die
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